Das 4. Buch des Blutes - 4
Zurechnungsfähigkeit fest. Sie mußte sich diese Erscheinungen so schnell wie möglich aus dem Kopf schlagen, oder sie würde unweigerlich verrückt werden. Sie kehrte dem Zimmer acht den Rücken. Was sie jetzt brauchte, waren Pillen. Sie hob ihre Handtasche auf, nur um sie wieder fallenzulassen, als sie mit zitternden Fingern nach den Fläschchen wühlte; dabei schüttete sie den Tascheninhalt auf den Boden. Eines der Gläser, das sie nicht ordentlich zugeschraubt hatte, entleerte sich. Ein Regenbogensortiment Tabletten rollte in alle Richtungen über den fleckigen Teppich.
Sie bückte sich, um sie aufzulesen. Allmählich kamen ihr die Tränen, machten sie blind; sie tastete nach den Pillen, so gut sie konnte, stopfte sich eine halbe Handvoll in den Mund und versuchte, sie trocken zu schlucken. Der Trommelwirbel des Regens auf dem Dach dröhnte immer lauter in ihrem Kopf. Ein Donnergrollen verlieh dem Schlagzeugsolo Nachdruck.
Und dann Johns Stimme: » Was treibst du da, Virginia ?« Sie schaute auf, Tränen in den Augen, eine pillenbefrachtete Hand an den Lippen. Ihren Mann hatte sie völlig vergessen; die Schatten und der Regen und die Stimmen hatten jeden Gedanken an ihn aus ihrem Kopf verscheucht. Sie ließ die Pillen abermals auf den Teppich fallen. Ihre Glieder bebten; sie hatte nicht die Kraft aufzustehen.
»Ich… ich… hab’ wieder die Stimmen gehört«, sagte sie.
Sein Blick war starr auf den verschütteten Inhalt von Tasche und Fläschchen fixiert. Mit aller wünschbaren Deutlichkeit war ihr Verbrechen vor ihm ausgebreitet. Es war zwecklos, noch irgend etwas leugnen zu wollen; das würde ihn nur noch mehr in Wut bringen.
»Weib«, sagte er, »hast du denn nichts gelernt?«
Sie gab keine Antwort.
Donner übertönte seine nächsten Worte. Er wiederholte sie lauter: »Woher hast du die Pillen, Virginia?«
Schwach schüttelte sie den Kopf.
»Vermutlich wieder von Earl. Von wem sonst?«
»Nein«, murmelte sie.
»Lüg mich nicht an, Virginia!« Er hatte die Stimme erhoben, um mit dem Unwetter gleichzuziehen. »Du weißt, der Herr hört deine Lügen, wie ich sie höre. Und du wirst gerichtet, Virginia!
Gerichtet! «
»Bitte, laß mich!« bat sie flehentlich.
»Du vergiftest dich.«
»Ich brauch’ sie, John«, sagte sie, »wirklich.« Sie hatte keine Kraft, sich seiner Drangsaliererei zu erwehren; ebensowenig wollte sie, daß er ihr die Pillen wegnahm. Aber was hatte Protestieren schließlich für einen Sinn? Er würde seinen Willen durchsetzen, wie immer. Es war wohl vernünftiger, die Beute jetzt fahrenzulassen und sich unnötige Qual zu ersparen.
»Schau dich an«, sagte er, »wie du am Boden herumkriechst!«
»Schikanier’ mich doch nicht, John!« antwortete sie. »Hast gewonnen. Nimm die Pillen. Mach schon! Nimm sie!«
Er war offensichtlich enttäuscht von ihrer raschen Kapitulation wie ein Schauspieler, der eine Lieblingsszene vorbereitet, nur um dann feststellen zu müssen, daß vorzeitig der Vorhang niedergeht. Aber er holte noch das Beste aus ihrer Aufforderung heraus, indem er ihre Tasche auf dem Bett umstülpte und die Fläschchen einsammelte.
»Ist das alles?« fragte er herrisch.
»Ja«, sagte sie.
»Betrüg mich ja nicht, Virginia!«
» Das ist alles !« schrie sie ihn an. Dann leiser: »Ich schwör’s dir…das ist alles.«
»Das wird Earl leid tun. Das versprech’ ich dir. Er hat deine Schwäche ausgenutzt…«
»Nein!«
»…deine Schwäche und deine Angst. Der Mann steht in Satans Diensten, soviel ist offenkundig.«
»Red keinen Unsinn!« sagte sie und war von ihrer eigenen Heftigkeit überrascht, »ich hab’ ihn drum gebeten, sie zu besorgen.« Mit einiger Mühe kam sie auf die Beine. »Er wollte sich dir nicht widersetzen, John. Das war ich, die ganze Zeit über.«
Gyer schüttelte den Kopf. »Nein, Virginia. Du rettest ihn nicht. Diesmal nicht. Die ganze Zeit über arbeitet er daran, mein Tun zu untergraben. Das ist mir jetzt klar. Arbeitet daran, meinem Kreuzzug auf dem Umweg über dich zu schaden. Na, jetzt weiß ich über ihn Bescheid. O ja. O ja .«
Er drehte sich unvermittelt um und schleuderte die Handvoll Fläschchen durch die offene Tür in die regnerische Finsternis hinaus. Virginia sah zu, wie sie flogen, und fühlte, wie ihr das Herz schwer wurde. Um geistige Gesundheit war es in einer Nacht wie dieser herzlich schlecht bestellt. Es war eine Nacht zum Verrücktwerden, nicht? Mit dem Regen, der einem auf den Schädel eindrosch, und Mord in der
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