Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
Sondereinlagen. «
    »Das überlassen wir Archie«, sagte er. »Ich hab’ Purcell gesagt, daß es bei uns morgen abend ginge. Paßt es dir da?«
    »Mir egal, wann.«
    »Er läßt einen Tisch für acht Uhr reservieren.«
    Die Abendzeitungen hatten »Die Tragödie des kleinen Kerry« zu einer Zehn-Zentimeter-Rubrik im Innenteil degradiert. Statt irgendwelcher großer Neuigkeiten schilderten sie bloß die Haus-zu-Haus-Befragungen, die jetzt im Spector-Street-Areal durchgeführt wurden. Einige der Spätausgaben erwähnten, daß Anne-Marie nach längerer, eingehender Vernehmung aus der Untersuchungshaft entlassen worden sei und jetzt bei Freunden wohne. Sie erwähnten nebenbei auch, daß die Beerdigung auf morgen festgesetzt sei.
    Als sie an diesem Abend ins Bett ging, hatte sich Helen
    keineswegs mit dem Gedanken getragen, wegen der Beerdigung nochmals zur Spector Street zu gehen, aber der Schlaf schien sie umzustimmen, und als sie erwachte, war die Entscheidung bereits für sie gefällt.
    Der Tod hatte Leben in die Wohnanlage gebracht. Noch nie hatte Helen auf ihrem Weg von der Straße bis zum Ruskin-
    Block solche Mengen auf den Beinen gesehen. Viele säumten schon die Bordsteinkante, um sich den Vorbeimarsch des Trauerzugs anzuschauen; offenbar hatten sie sich, trotz des Windes und der immer gegenwärtigen Regengefahr, frühzeitig ihren Platz gesichert. Manche trugen das eine oder andere Stück schwarze Kleidung - einen Mantel, einen Schal -, aber der Gesamteindruck war, trotz der gesenkten Stimmen und der gekünstelt ernsten Mienen, ein festlicher. Umherlaufende Kinder, unberührt von jeder Ehrfurcht; gelegentliches Gelächter, das plaudernden Erwachsenen entfuhr - Helen verspürte einen Grundtenor prickelnder Erwartung, der sie, trotz des Anlasses, in beinah beschwingte Stimmung versetzte.
    Es war auch nicht einfach das Vorhandensein so vieler Menschen, das sie beruhigte; sie war, wie sie vor sich selber zugeben mußte, froh, wieder hier zu sein in der Spector Street.
    Die Innenhöfe mit ihren verkümmerten Bäumchen und ihren grauen Grasflächen kamen ihr wirklicher vor als die teppichbelegten Korridore, durch die sie normalerweise ging;
    die anonymen Gesichter auf den Balkonen und Straßen bedeuteten ihr mehr als ihre Kommilitonen an der Uni. Mit einem Wort, sie fühlte sich zu Hause.
    Endlich tauchten die Wagen auf, bewegten sich im Schneckentempo durch die engen Straßen. Als der Leichenwagen in Sicht kam - der winzige weiße Sarg mit Blumen geschmückt -, gaben mehrere Frauen in der Menge leise ihrem Kummer Ausdruck. Eine Zuschauerin fiel in
    Ohnmacht; ein Knäuel besorgter Menschen umringte sie.
    Selbst die Kinder waren jetzt still geworden.
    Helen sah zu, trockenen Auges. Sie brach nicht so leicht in Tränen aus, besonders nicht in Gesellschaft. Als der zweite Wagen, der Anne-Marie und zwei weitere Frauen enthielt, auf ihrer Höhe war, sah Helen, daß die hinterbliebene Mutter gleichfalls jede öffentliche Zurschaustellung von Kummer unterließ. Ja, sie schien auf Grund der Vorgänge in gehobener Stimmung zu sein, aufrecht im Fond des Wagens sitzend, ihre bleichen Gesichtszüge die Quelle vielfacher Bewunderung. Es war ein bitterer Gedanke, aber Helen kam es vor, als sei sie Zeugin von Anne-Maries großer Stunde; diesem einen Tag in einem sonst anonymen Leben, an dem sie im Zentrum des Interesses stand. Langsam glitt der Zug vorbei und verschwand aus der Sicht.
    Das Menschengewühl um Helen zerstreute sich bereits. Sie riß sich los von den wenigen Trauernden, die noch an der Bordsteinkante herumstanden, und ging von der Straße bis in den Butts-Block durch. Sie hatte vor, zu der abgesperrten Maisonette zurückzugehen, um nachzuschauen, ob der Hund noch da war. Wenn ja, würde sie sich selbst beruhigen, indem sie einen der Hausverwalter ausfindig machte und ihn informierte.
    Der Hof war, im Unterschied zu den anderen Blocks, leer.
    Vielleicht waren die Bewohner, da sie Nachbarn von Anne-
    Marie waren, zur Totenmesse ins Krematorium mitgegangen.
    Aus welchem Grund auch immer, der Platz war unheimlich ausgestorben. Nur Kinder waren zurückgeblieben, die um die Scheiterhaufenpyramide spielten; ihre Stimmen hallten über die leere Weite des Hofes.
    Sie erreichte die Maisonette und fand zu ihrer Überraschung die Tür wieder offen, wie bei ihrem ersten Erkundungsgang.
    Der Anblick des Inneren machte sie leichtsinnig. Wie oft hatte 60
    sie sich in den vergangenen Tagen vorgestellt, hier zu stehen und in diese

Weitere Kostenlose Bücher