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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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gemeldet worden.
    Sie las den Bericht ein drittes und viertes Mal durch, aber Wiederholung änderte die gräßlichen Fakten nicht. Das Kind war vor Tagesanbruch ermordet worden. Als sie an jenem Morgen zu der Maisonette gegangen war, war Kerry bereits vier Stunden tot. Sein Körper befand sich in der Küche, nur wenige Meter durch die Diele von ihr entfernt, und Anne-
    Marie hatte nichts gesagt. Dieses erwartungsvolle Getue von ihr - was hatte es bedeutet? Daß sie auf irgendeinen Wink wartete, um den Hörer abzuheben und die Polizei zu rufen?
    »Mein Gott…« sagte Helen und ließ die Zeitung fallen.
    »Was?«
    »Ich muß zur Polizei.«
    »Wieso?«
    »Ihnen sagen, daß ich Montag früh bei ihr war«, antwortete sie. Trevor schaute perplex drein. »Das Kind war tot, Trevor.
    Als ich Anne-Marie gestern morgen gesprochen hab’, war Kerry bereits tot.«
    Sie telefonierte die in der Zeitung für sachdienliche Hinweise angegebene Nummer an, und eine halbe Stunde später kam ein Polizeiwagen, um sie abzuholen. Während des anschließenden zweistündigen Verhörs erfuhr sie vieles, das sie überraschte, nicht zuletzt die Tatsache, daß niemand ihre Anwesenheit auf dem Spector-Street-Areal der Polizei gemeldet hatte, obwohl sie mit Sicherheit bemerkt worden war.
    »Sie wollen nichts wissen«, sagte der Kriminalbeamte, »man sollte meinen, daß ein Platz wie der vor Zeugen nur so wimmelt. Aber sie rücken nichts raus. Ein Verbrechen wie dieses…«
    »Ist es das erste?« sagte sie.
    Über einen chaotischen Schreibtisch hinweg sah er sie an.
    »Das erste?«
    »Man hat mir einige Geschichten über die Wohnanlage erzählt. Mordfälle. Diesen Sommer.«
    Der Kriminalbeamte schüttelte den Kopf. »Meines Wissens nicht. Es kam zu ‘ner ganzen Serie Raubüberfälle; eine Frau mußte für zirka acht Tage ins Krankenhaus. Aber Morde - nein, 56
    keine.«
    Der Kriminalbeamte gefiel ihr. Seine Augen schmeichelten ihr, weil sie auf ihr verweilten, und seinem Gesicht, weil sie so offen waren. Ohne sich noch länger drum zu scheren, ob es sich idiotisch anhörte oder nicht, sagte sie: »Weshalb erzählen die derartige Lügen? Von Leuten, denen man die Augen raus-schneidet. Schreckliche Dinge.«
    Der Kriminalbeamte kratzte sich an seiner langen Nase. »Da geht’s uns nichts anders«, sagte er. »Es kommen welche hier rein und legen Geständnisse über jeden möglichen Krampf ab.
    Sin’ manche drunter, die reden die ganze Nacht von Dingen, die sie getan haben oder getan zu haben glauben. Schildern einem alles in den kleinsten Einzelheiten. Und dann macht man ‘n paar Anrufe, und es ist alles erfunden. Pure Phantasie.«
    »Wenn sie Ihnen die Geschichten nicht erzählen würden…
    vielleicht würden sie dann losziehen und es tatsächlich tun.«
    Der Kriminalbeamte nickte. »Ja«, sagte er. »Gott steh’ uns bei. Sie könnten recht damit haben.«
    Und die Geschichten, die man ihr erzählt hatte, waren sie Geständnisse nicht begangener Verbrechen? Darstellungen des Schlimmsten, das man sich vorstellen konnte, ausgedacht, damit die Fiktion nicht Tatsache wurde? Der Gedanke jagte seinem eigenen Schwanz hinterher: Diese schrecklichen Geschichten brauchten noch immer einen Urgrund, eine Quelle, der sie entsprangen. Auf ihrem Nachhauseweg durch die be-lebten Straßen fragte sie sich, wie viele ihrer Mitbürger wohl solche Geschichten kannten. Waren diese Erfindungen gang und gäbe, wie Purcell behauptet hatte? War im Herzen eines jeden ein wenn auch noch so kleiner Platz für das Ungeheuerliche aufgespart?
    »Purcell hat angerufen«, sagte ihr Trevor, als sie heimkam.
    »Um uns zum Dinner einzuladen.«
    Die Einladung kam ungelegen, und Helen zog ein Gesicht.
    »Ins Appollinaires, weißt du nicht mehr?« erinnerte er sie.
    »Er sagte, er führt uns alle zum Dinner aus, wenn du ihm nach-weist, daß er sich im Irrtum befindet.«
    Die Vorstellung, durch den Tod von Anne-Maries kleinem Jungen zu einem Dinner zu kommen, war grotesk; und das sagte sie auch.
    »Er is’ sicher beleidigt, wenn du ihm einen Korb gibst.«
    »Was kümmert’s mich. Ich will kein Dinner mit Purcell.«
    »Bitte«, sagte er sanft. »Er kann ekelhaft werden, und grade momentan möcht’ ich ihn bei guter Laune halten.«
    Sie schaute flüchtig zu ihm hinüber. Der Gesichtsausdruck, den er aufgesetzt hatte, gab ihm Ähnlichkeit mit einem durchnäßten Spaniel. Manipulierer, elender, dachte sie; sagte aber:
    »Na schön, ich komm’ mit. Aber erwart dir bloß keine

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