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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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sie.
    »Wir sind auch klein«, erwiderte Gomm. »Man schrumpft
    mit dem Alter, wissen Sie, wie Dörrobst. Und wir sind alt.
    Zusammen mit Floyd haben wir’s auf dreihundertneunzig Jahre gebracht. All die bittere Erfahrung«, sagte er, »und keiner von uns weise.«
    Im Hof draußen vor Vanessas Zimmer erhob sich plötzlich lautes Geschrei. Gomm verschwand von der Tür und tauchte kurz wieder auf, um zu murmeln: »Sie haben ihn gefunden. O
    mein Gott, sie haben ihn gefunden.« Dann floh er.
    Vanessa ging zum Fenster und spähte hinaus. Von dem Hof da unten konnte sie nicht viel sehen, aber was sie sehen konnte, war voll hektischer Betriebsamkeit und hierhin und dorthin flitzenden Schwestern. Im Zentrum dieses Tumults konnte sie eine kleine Gestalt erkennen - ohne Zweifel der Ausreißer Floyd -, die im Griff zweier Wachposten zappelte. Er sah so aus, als seien ihm die im Freien verbrachten Tage und Nächte nicht gut bekommen: Die schlaffen Gesichtszüge waren verdreckt und auf dem kahl werdenden Schädel schälte sich die von zu viel Sonne verbrannte Haut. Vanessa hörte aus dem Geschnatter die Stimme von Mr. Klein heraus, und da betrat er auch schon den Schauplatz. Er näherte sich Floyd und begann, ihn erbarmungslos auszuschimpfen. Vanessa konnte nicht mehr als jedes zehnte Wort aufschnappen, aber unter der verbalen Attacke löste sich der Mann rasch in Tränen auf. Sie wandte sich angewidert vom Fenster ab, mit dem stummen Gebet, daß Klein an seinem nächsten Stück Schokolade ersticken möge.
    Bis jetzt hatte ihr der Aufenthalt hier eine kuriose Sammlung von Erfahrungen verschafft: im einen Augenblick angenehm (Gomms Lächeln, die Pizza, die Geräusche der Spiele, die in einem ähnlichen Hof gespielt wurden), im nächsten (das Verhör, die Schikane, die sie eben mit angesehen hatte) widerwärtig. Und noch immer verstand sie um keinen Deut besser, welche Funktion dieses Gefängnis hatte; weshalb es nur fünf Insassen hatte (sechs, wenn sie sich selber
    mitrechnete), und alle so alt - eingeschrumpft mit dem Alter, hatte Gomm gesagt. Aber nach dieser Erniedrigung Floyds durch Klein war sie jetzt sicher, daß kein noch so bedrohliches Geheimnis sie davon abhalten würde, Gomm bei seinen Freiheitsbestrebungen zu helfen.
    Der Professor kam an diesem Abend nicht wieder, was sie enttäuschte. Vielleicht, schloß sie, hatte Floyds Wiedergefangennahme zu einer strengeren Überwachung im gesamten Gebäudebereich geführt; auf sie allerdings traf diese Regelung kaum zu. Man hatte sie anscheinend vergessen. Obwohl ihr Guillemot was zum Essen und Trinken brachte, blieb er weder, um ihr das Pokern beizubringen, wie sie ausgemacht hatten, noch wurde sie hinausbegleitet, um frische Luft zu schnappen.
    Allein in dem muffigen Raum, ohne jegliche unterhaltsame Ablenkung - außer sie zählte ihre Zehen -, wurde sie rasch teilnahmslos und schläfrig.
    Und tatsächlich verdöste sie den halben Nachmittag, bis etwas von außen gegen die Wand mit dem Fenster schlug. Sie stand auf und wollte gerade nachschauen, was für ein Geräusch das war, als ein Gegenstand durch das Fenster geschleudert wurde. Er landete mit dumpfem Klirren auf dem Boden. Sie blickte hinaus, um vielleicht den Absender noch irgendwo zu entdecken, aber er war verschwunden.
    Das winzige Päckchen war ein mit einem Zettel umwickelter Schlüssel. Vanessa, stand auf dem Fetzen Papier, halten Sie sich bereit. In saecula saeculorum. Ihr H. G.
    Latein war nicht ihre Stärke; hoffentlich waren diese abschließenden Worte eine liebenswürdige Floskel und keine Anweisung. Sie probierte den Schlüssel im Schloß ihrer Zellentür. Er paßte. Gomm wünschte jedoch nicht, daß sie ihn jetzt benutzte, sie sollte auf irgendein Zeichen warten. Halten   Sie sich bereit, hatte er geschrieben. Ja - leichter gesagt als getan. Es war so verlockend, angesichts der aufgesperrten Tür und des ungehindert benutzbaren Ganges hinaus in die Sonne zu laufen, Gomm und die anderen zu vergessen und schnell das Weite zu suchen. Aber H. G. hatte zweifellos einiges riskiert, den Schlüssel zu beschaffen. Sie durfte ihn einfach nicht hängenlassen.
    Nun war es aus mit dem Dösen. Jedesmal wenn sie in den Arkaden einen Schritt oder im Hof jemanden rufen hörte, war sie auf dem Sprung und bereit. Aber Gomms Signal kam nicht.
    Der Nachmittag schleppte sich in den Abend hinein. Guillemot erschien mit einer weiteren Pizza und einer Flasche Coca-Cola als Abendessen, und ehe sie es richtig mitbekam, war die

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