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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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ausersehn«, sagte Cleve lustlos, »zu verhindern, daß man dich zerfleischt.«
    Tait starrte Cleve mit Augen an, deren Blau milchig war, als ob die Sonne noch in ihnen nachschimmerte. »Mach dir keine Mühe«, sagte der Junge. »Du bist mir nichts schuldig.«
    »Hast du verdammt recht damit. Aber anscheinend hab’ ich jetzt ‘ne soziale Aufgabe«, sagte Cleve mürrisch. »Und die bist du.«
    Cleve hatte zwei Monate seiner Freiheitsstrafe wegen Marihuanahandels hinter sich; sein dritter Besuch in Pentonville.
    Mit dreißig Jahren war er alles andere als verbraucht. Sein Körper war robust, sein Gesicht hager und fein gezeichnet; bei der Gerichtsverhandlung hätte man ihn in seinem Anzug aus zehn Meter Abstand durchaus für einen Rechtsanwalt halten können.
    Aus etwas geringerer Entfernung wäre dem Betrachter möglicherweise die Narbe an seinem Hals ins Auge gestochen, das Resultat eines Angriffs durch einen abgebrannten Süchtigen, sowie eine gewisse Wachsamkeit in seinem Gang, als ob er sich bei jedem Schritt nach vorn die Möglichkeit eines schnellen Rückzugs offenhielte.
    Sie sind noch jung, hatte der letzte Richter zu ihm gesagt, Sie haben noch Zeit, sich von Grund auf zu ändern. Cleve hatte ihm nicht laut widersprochen, aber er wußte in seinem Innersten, daß er einfach nicht aus seiner Haut konnte. Verbrechen zu begehen war leicht, Arbeit nicht. Solang ihm niemand das Gegenteil bewiese, würde er tun, was er am besten konnte, und die Folgen tragen, wenn man ihn erwischte. Seine Zeit abzusit-zen war gar nicht so unangenehm, wenn man die richtige Einstellung dazu hatte. Das Essen war passabel, die Gesellschaft erlesen; solange er irgendeine geistige Beschäftigung hatte, war er durchaus zufrieden. Momentan las er Abhandlungen über die Sünde. Also, das war vielleicht ein Thema. In seiner Haftzeit hatte er schon so viele Erklärungen darüber gehört, wie sie in die Welt kam; von Bewährungshelfern und Rechtsanwälten und Priestern. Soziologische, theologische, ideologische Theorien. Einige waren ein paar Minuten Nachdenken wert. Die meisten waren so absurd (die Erbsünde, die Sünde als ursprünglicher Zustand des Menschen), daß er ihren Apologe-ten ins Gesicht lachte. Keine war auf Dauer stichhaltig.
    Aber an dem Knochen hatte er ordentlich was zu knabbern.
    Er brauchte ein Problem, um die Tage damit auszufüllen. Und die Nächte; er schlief schlecht im Gefängnis. Es war nicht seine Schuld, die ihn wachhielt, sondern die anderer. Er war schließlich bloß ein Haschdealer, sorgte für Stoff, wo immer Bedarf bestand; ein kleineres Rädchen in der Vertriebs- und Nachschubmaschine. Er brauchte sich wegen nichts schuldig zu fühlen. Doch es gab andere hier, viele andere, so schien es, deren Träume nicht so sanft und deren Nächte nicht so friedlich waren. Sie schrien, sie klagten; sie verfluchten hiesige und himmlische Richter. Ihr Krakeelen hätte die Toten wachgehalten.
    »Ist das immer so?« fragte Billy Cleve nach etwa einer Woche. Ein neuer Insasse schlug am anderen Ende des Zellenflurs Krawall: im einen Moment Tränen, im nächsten
    Obszönitäten.
    »Ja, meistens«, sagte Cleve. »Manche von denen müssen einfach ein bißchen schreien. Das verhindert, daß ihnen das Gehirn verklumpt.«
    »Aber bei dir ist es nicht so«, bemerkte die mißtönende Stimme aus dem unteren Bett, »du liest bloß deine Bücher und hältst dich in sicherer Entfernung. Ich hab’ dich beobachtet. Es macht dir nichts aus, oder?«
    »Ich kann damit leben«, antwortete Cleve. »Ich hab’ keine Frau, die jede Woche hierherkommt, um mich dran zu erinnern, was mir abgeht.«
    »Du warst schon mal hier?«
    »Zweimal.«
    Der Junge zögerte einen Augenblick, ehe er sagte: »Ich nehm’ an, du kennst dich hier gut aus, oder?«
    »Na, ich schreib’ zwar nicht an ‘nem Führer, aber den allgemeinen Grundplan hab’ ich mittlerweile intus.« Eine seltsame Bemerkung, die der Junge da machte. »Wieso?«
    »Wollt’s nur wissen«, sagte Billy.
    »Hast du ‘ne Frage?«
    Tait antwortete sekundenlang nicht, sagte dann: »Ich hab’
    gehört, daß sie früher… früher hier welche gehenkt haben.«
    Der Junge hätte mit allem möglichen herausrücken können, aber auf ausgerechnet das war Cleve nicht gefaßt. Na ja, er war schließlich vor mehreren Tagen zu der Überzeugung gelangt, daß Billy Tait ein seltsamer Vogel war. Verstohlene Seitenblicke aus diesen milchigblauen Augen; die Art, in der er die Wand oder das Fenster anstarrte, wie

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