Das 5. Buch des Blutes - 5
an, sondern starrte zum Bett über sich hinauf. Ruhig sagte er: »Ich wollte bloß wissen, wo die Gräber sind, das war alles.«
»Die Gräber?«
»Wo sie die Männer begruben, die sie gehenkt haben.
Jemand hat mir gesagt, daß dort, wo Crippen begraben ist, ein Rosenbusch steht. Hast du je davon gehört?«
Cleve schüttelte den Kopf. Erst jetzt erinnerte er sich wieder daran, wie der Junge sich über den Hinrichtungsverschlag erkundigt hatte; und jetzt die Gräber. Billy schaute zu ihm hinauf. Der Bluterguß wurde von Minute zu Minute voller.
»Du weißt, wo sie sind, Cleve?« fragte er. Wieder diese simulierte Lässigkeit.
»Ich könnt’ es rausfinden, wenn du mir dafür sagst, wieso du das wissen willst.«
Billy schaute aus der Deckung seines Bettes hervor. Die Nachmittagssonne beschrieb ihren kurzen Bogen auf der gestrichenen Ziegelwand der Zelle. Ein schwacher Schein heute. Der Junge schwang die Beine vom Bett und setzte sich auf die Matratzenkante, den Blick ins Licht gerichtet wie am ersten Tag. »Mein Großvater - das heißt, der Vater meiner Mutter - wurde hier gehenkt«, sagte er mit rauher Stimme.
»1937. Edgar St. Clair Tait.«
»Hast du nicht eben gesagt, der Vater deiner Mutter ?«
»Ich hab’ seinen Namen angenommen. Ich wollte nicht wie mein Vater heißen. Ich hab’ nie zu ihm gehört.«
»Niemand gehört zu irgend jemandem«, antwortete Cleve.
»Du bist dein eigener Herr.«
»Das stimmt aber nicht«, sagte Billy mit winzigem Achselzucken, den Blick noch immer ins Licht auf der Wand gerichtet.
Seine Gewißheit war unerschütterlich; die sanfte Leichtigkeit seiner Sprechweise beeinträchtigte nicht den Nachdruck seiner Aussage. »Ich gehöre zu meinem Großvater.
Schon immer.«
»Du warst noch nicht mal geboren, als er…«
»Das spielt keine Rolle. Kommen und Gehen; das zählt nicht.«
Kommen und Gehen, rätselte Cleve; meinte Tait Leben und Tod? Er bekam keine Chance zu fragen. Billy sprach wieder, derselbe gedämpfte, aber beharrliche Redefluß.
»Natürlich war er schuldig. Nicht so, wie man es von ihm glaubte, aber schuldig. Er wußte, was er war und wessen er fähig war; das ist Schuld, oder? Er tötete vier Menschen. Oder zumindest war es das, wofür man ihn henkte.«
»Du meinst, er tötete mehr?«
Ein weiteres kleines Achselzucken von Seiten Billys:
Zahlen spielten offenbar keine Rolle. »Aber niemand kam, um nachzuschaun, wo sie ihn zur Ruhe gebettet haben. Das ist nicht in Ordnung, oder? Es war ihnen egal, nehm’ ich an. Die ganze Verwandtschaft war wahrscheinlich froh, daß er weg war. Die glaubten, er sei immer schon krank gewesen im Hirn.
Aber das war er nicht. Ich weiß, er war’s nicht. Ich hab’ seine Hände und seine Augen. Hat Ma gesagt. Sie hat mir alles von ihm erzählt, weißt du, ganz kurz bevor sie starb. Verriet mir Dinge, die sie keinem sonst verriet, und verriet sie mir nur meiner Augen wegen…« Er stockte und führte die Hand an die Lippen, als ob das fluktuierende Licht auf dem Mauerwerk ihn bereits hypnotisiert und er zuviel gesagt hätte.
»Was hat dir deine Mutter verraten?« drängte ihn Cleve.
Billy schien alternative Antworten gegeneinander abzuwägen, ehe er mit einer herausrückte. »Bloß, daß er und ich in mancherlei Hinsicht gleich wären«, sagte er.
»Verrückt, meinst du?« sagte Cleve, nur halb im Scherz.
»Etwas in der Art«, antwortete Billy, den Blick noch immer auf die Wand gerichtet. Er seufzte, erlaubte sich dann ein zusätzliches Geständnis. »Deswegen bin ich hierhergekommen.
Damit mein Großvater erfährt, daß man ihn nicht vergessen hat.«
»Hierhergekommen?« sagte Cleve. »Wovon redest du? Du wurdest erwischt und verurteilt. Du hattest keine Wahl.«
Das Licht auf der Wand wurde ausgelöscht, als eine Wolke vor der Sonne vorbeizog. Billy schaute zu Cleve hinauf. Das Licht war da, in seinen Augen.
»Ich hab’ ein Verbrechen begangen, um hier reinzugelangen«, antwortete der Junge. »Es geschah mit Absicht.«
Cleve schüttelte den Kopf. Die Behauptung war aberwitzig.
»Ich hab’s schon vorher versucht: zweimal. Es hat Zeit gebraucht. Aber ich bin hierhergekommen, oder nicht?«
»Halt mich nicht für ‘n Idioten, Billy«, warnte Cleve.
»Das tu’ ich nicht«, antwortete der andere. Er stand auf. Irgendwie wirkte er jetzt, aufgrund der erzählten Geschichte, unbeschwerter; er lächelte sogar, wenn auch nur versuchsweise, als er sagte: »Du bist freundlich zu mir. Denk nicht, daß ich das nicht weiß.
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