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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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»Vielleicht hat einer von ihnen überlebt. Womöglich eine Tochter, denk’ ich…« Achselzuckend schloß er dieses Thema ab. »Mein Gedächtnis is’ nicht besonders, was die Opfer betrifft. Aber wem geht’s da nicht so?« Er richtete seinen gleichgültigen Blick auf Cleve. »Weshalb bist du so an Tait interessiert? Er wurde vor dem Krieg gehenkt.«
    »1937. Er wird schon völlig hinüber sein, was?«
    Der Bischof hob einen warnenden Finger. »Von wegen!«
    sagte er. »Weißt du, das Land, auf dem dieses Gefängnis errichtet ist, hat besondere Eigenheiten. Hier begrabene Leichen verwesen nicht so wie anderswo.« Cleve warf dem Bischof einen ungläubigen Blick zu. »Das ist wahr«, beteuerte der Dicke sanft. »Das hab’ ich aus sicherster Quelle. Darfst mir glauben, jedesmal, wenn sie aus diesem Boden ‘ne Leiche exhumieren mußten, hat man sie immer in beinah unversehrtem Zustand vorgefunden.« Er hielt inne, um seine Zigarette anzuzünden, und sog daran, atmete dann mit seinen nächsten Worten den Rauch durch den Mund aus. »Wenn das Ende der Welt gekommen ist, werden die Guten von Marylebone und Camden Town bis auf die Knochen verwest auferstehen. Aber die Bösen? Sie wer’n so frisch zum Jüngsten Gericht tanzen wie an dem Tag, als sie tot umfielen. Stell dir das mal vor.« Diese perverse Idee entzückte ihn offensichtlich.
    Sein dickliches Gesicht bekam vor Freude daran Grübchen und Runzeln. »Hah«, sagte er träumerisch. »Und wer wird wohl wen verdorben nennen an jenem schönen Morgen?«
    Cleve kriegte nie ganz heraus, wie sich Billy bis zum Gärtnertrupp vorangeschwatzt hatte, jedenfalls schaffte er es.
    Womöglich hatte er sich direkt an Mayflower gewandt, der dann seine Vorgesetzten davon überzeugt hatte, daß der Aufenthalt im Freien bei dem Jungen kein Risiko darstelle.
    Wie immer er dieses Manöver gedeichselt hatte, Mitte der Woche, die auf Cleves Entdeckung des Gräberfeldes folgte, war Billy draußen im kalten Aprilmorgen beim Grasmähen.
    Was an jenem Tag passierte, sickerte zur Abendzeit durchs interne Nachrichtensystem. Cleve hatte die Geschichte von drei voneinander unabhängigen Gewährsmännern; keiner von ihnen war an Ort und Stelle gewesen. Die Darstellungen wiesen unterschiedliche Nuancen auf, hatten aber offensichtlich die-
    selbe Grundlage. Die nackten Fakten waren folgende:
    Der Gärtnertrupp, bestehend aus vier Mann unter Aufsicht eines einzelnen Gefängnisbeamten, bewegte sich um die

Blocks, um zur Vorbereitung der Frühlingspflanzung Gras zu stutzen und Beete zu jäten. Die Bewachung war offenbar lax gewesen. Erst nach zwei, drei Minuten bemerkte der Officer überhaupt, daß einer der ihm Anvertrauten sich zum Rand der Abteilung gestohlen und davongemacht hatte. Alarm wurde ausgelöst. Die Beamten mußten jedoch nicht weit suchen. Tait hatte keinen Fluchtversuch unternommen, oder falls doch, so war er an seinem Versuch durch eine Art Anfall gehindert worden, der ihn lahmgelegt hatte. Man fand ihn (und hier divergierten die Geschichten beträchtlich) auf einem großen Rasenstück neben der Mauer, auf dem Gras liegend. Einige Berichte behaupteten, daß er schwarz im Gesicht war, sein Körper zusammengekrampft und seine Zunge beinah durchgebissen; andere wieder, er sei mit dem Gesicht nach unten liegend gefunden worden und habe weinend und schmeichelnd auf die Erde eingeredet. Die übereinstimmende Meinung war, daß der Junge den Verstand verloren habe.
    Die Berichte rückten Cleve in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit; eine Situation, an der er keinen Geschmack fand. Am nächsten Tag ließ man ihn kaum in Ruhe; die Männer wollten wissen, wie das ist, wenn man die Zelle mit einem Irren teilt.
    Er bestand darauf, er habe dazu nichts zu sagen. Tait sei der ideale Zellengenosse gewesen - ruhig, anspruchslos und absolut normal. Dieselbe Geschichte erzählte er Mayflower, als er tags darauf ausgequetscht wurde; und später dann dem Gefängnisarzt. Von Taits Interesse an den Gräbern ließ er keinen Hauch verlauten und machte es sich zur Pflicht, den Bischof aufzusuchen und von ihm ein entsprechendes Stillschweigen zu verlangen. Der war nur bereit, Cleve den Gefallen zu tun, wenn ihm die gesamte Geschichte zum angemessenen Kurs vergütet würde. Cleve versprach es ihm.

    Der Bischof, wie es seiner angenommenen Geistlichkeit ziemte, stand zu seinem Wort.
    Zwei Tage lang blieb Billy der Gemeinde fern. In der Zwischenzeit verschwand Mayflower aus seiner Position als Zellenflur-Officer.

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