Das 5. Buch des Blutes - 5
Ich bin dankbar. Jetzt…« und er schaute Cleve ins Gesicht, ehe er sagte: »… will ich wissen, wo die Gräber sind. Find es heraus, und du hörst keinen Piepser mehr von mir, das versprech’ ich dir.«
Cleve wußte so gut wie nichts über das Gefängnis oder seine Geschichte, aber er kannte jemanden, der es wußte. Es gab einen Mann namens Bischof - den Insassen so vertraut, daß sein Name den bestimmten Artikel erworben hatte -, der oft zur selben Zeit in der Werkstatt war wie Cleve. Der Bischof war in seinen etwas mehr als vierzig Jahren immer wieder ins Gefängnis gewandert, meistens wegen kleinerer Vergehen, und warmit dem ganzen Fatalismus eines Einbeinigen, der sein Leben lang akribisch Monopedie studiert - nachgerade ein Experte für Gefängnisse und den Strafvollzug. Weniges von seinen Kenntnissen stammte aus Büchern. Die Hauptmasse seiner Information hatte er von alten Knastbrüdern und Gefängniswärtern, die die Stunden wegreden wollten, und im Laufe der Zeit hatte er sich zu einer wandelnden Enzyklopädie über Verbrechen und Strafe entwickelt. Er hatte es zu seinem Geschäft gemacht und verkaufte sein sorgfältig angespartes Wissen satzweise; manchmal als geographische Information an den Möchtegernausbrecher, manchmal als Gefängnismythologie an den gottlosen Sträfling, der nach einer Ortsgottheit suchte. Jetzt machte Cleve den Mann ausfindig und legte ihm seine Bezahlung in Tabak und Schuldscheinen hin.
»Was kann ich für dich tun?« fragte der Bischof. Er war massig, dies aber ohne einen Zug ins Krankhafte. Die nadeldünnen Zigaretten, die er permanent drehte und rauchte, verkümmerten zu Winzlingen in seinen vom Nikotin
sepiagefärbten Metzgerfingern.
»Ich will was über das Aufhängen hier erfahren.«
Der Bischof lächelte. »Feine Geschichten«, sagte er und begann zu erzählen. Hinsichtlich der dürren Einzelheiten hatte Billy im wesentlichen recht gehabt. Gehenkt wurde in Pentonville bis zur Jahrhundertmitte, aber den Hinrichtungsverschlag hatte man schon längst abgerissen. An der Stelle stand jetzt die Bewährungskanzlei im B-Trakt. Was die Geschichte von Crippens Rosen anbetraf, so war auch an ihr was Wahres dran. Vor einer Hütte in den Gartenanlagen, in der, wie der Bischof Cleve informierte, Gärtnereigerät gelagert wurde, war eine kleine grasbewachsene Stelle, in deren Mitte ein Busch blühte, gepflanzt (und an diesem Punkt gestand der Bischof, daß er hier Wahrheit und Dichtung nicht auseinanderhalten könne) zum Gedächtnis von Doktor Crippen, gehenkt 1910.
»Und da sind die Gräber?« fragte Cleve.
»Nein, nein«, sagte der Bischof und verwandelte eine seiner Zigaretten mit einem einzigen Zug zur Hälfte zu Asche. »Die Gräber sind längs der Mauer, linker Hand hinter der Hütte.
Dort ist ein langer Rasenstreifen; den hast du sicher schon gesehen.«
»Keine Steine?«
»Absolut nicht. Die Parzellen hat man immer ungekennzeichnet gelassen. Nur der Direktor weiß, wo er begraben ist; und wahrscheinlich hat er die Pläne verloren.«
Der Bischof stöberte in der Brusttasche seines Gefängnishemds nach seiner Tabaksdose und begann mit solcher Geläufigkeit eine neue Zigarette zu drehen, daß er dabei kaum hinsehen mußte. »Es is’ niemandem erlaubt, dort ‘n Trauerbesuch abzustatten, verstehst du. Aus den Augen, aus dem Sinn, so ist das gedacht. Natürlich klar, daß das nicht funktioniert.
Premierminister werden vergessen, aber an Mörder erinnert man sich. Du spazierst über diesen Rasen, und bloß sechs Fuß drunter sind einige der berüchtigtsten Männer, die diesem grünen, liebenswerten Land jemals Ehre gemacht haben. Und nicht mal ‘n Kreuz, um die Stelle zu kennzeichnen. Kriminell, oder?«
»Du weißt, wer dort begraben liegt?«
»‘n paar sehr schlimme Herren«, antwortete der Bischof, als mache er ihnen wegen ihrer kleinen Schandtaten zärtliche Vorhaltungen.
»Hast du von einem Mann namens Edgar Tait gehört?«
Der Bischof zog die Augenbrauen hoch, das Fett seiner Stirn furchte sich. »Sankt Tait? Aber ja doch. Den vergißt man nicht so leicht.«
»Was weißt du über ihn?«
»Er hat seine Frau umgebracht und dann seine Kinder. Sie alle mit dem Messer abgemurkst, so wahr ich hier lebe und atme.«
»Alle?«
Der Bischof steckte sich die frisch gedrehte Zigarette zwischen die wulstigen Lippen. »Alle vielleicht nicht«, nuschelte er und kniff leicht die Augen zusammen beim Versuch, sich die besonderen Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen.
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