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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Selbstverteidigung auf den Lippen.
    Der Lächelnde schien ihn jedoch nicht zu sehen und schritt an ihm vorbei, weiter voran und in die Wüste hinaus, um beim Überqueren irgendeiner unsichtbaren Grenzlinie die Klinge fallen zu lassen. Erst jetzt sah Cleve, daß andere dasselbe getan hatten und daß der Boden an der Stadtgrenze mit tödlichen Andenken übersät war - Messer, Stricke (selbst eine Menschenhand, am Gelenk abgehauen) -, von denen die meisten beinah begraben waren.
    Der Wind trug abermals die Stimmen heran: Fetzen unsinniger Lieder und abgerissenes Gelächter. Er blickte auf vom Sand. Der Verbannte, der an die hundert Meter aus der Stadt hinausgegangen war, stand jetzt auf dem Gipfel einer der Dünen und wartete offenbar auf etwas. Die Stimmen wurden ständig lauter. Cleve wurde plötzlich nervös. Wann immer er während seiner Aufenthalte in der Stadt diese Kakophonie gehört hatte, hatte das Bild, das er sich dabei von ihren Urhebern machte, ihm das Blut in den Adern erstarren lassen. Konnte er jetzt stehenbleiben und darauf warten, daß die Todesfeen erschienen? Neugier besiegte die Vorsicht. Er heftete den Blick auf die Kammlinie, über die sie kommen würden, mit hämmerndem Herzen, außerstande wegzuschauen. Der Mann im Sonntagsanzug hatte begonnen, seine Krawatte aufzubinden.
    Und jetzt glaubte Cleve, in den Dünen etwas zu sehen, und der Stimmenlärm stieg zu einem ekstatischen Willkommensgeheul an. Unverwandt schaute er hin, ging dabei das Risiko ein, daß seine Nerven ihn im Stich ließen, war er doch entschlossen, diesem Grauen in seine vielen Gesichter zu sehen…
    Plötzlich wurde das Getöse der Geistermusik von einem Kreischen übertönt; die Stimme eines Mannes, aber hoch, von
    Entsetzen kastriert. Sie kam nicht aus der Traumstadt hier, sondern aus jener anderen, von ihm bewohnten Fiktion, an deren Namen er sich nicht recht erinnern konnte. Er drängte seine Aufmerksamkeit wieder zu den Dünen, entschlossen, sich den Anblick der Wiedervereinigung, die gleich vor ihm stattfinden würde, nicht nehmen zu lassen. Der Schrei in jenem namenlosen Anderswo kletterte in kehlensprengende Höhe und brach ab. Aber jetzt schrillte statt seiner eine Alarmglocke, beharrlicher als je. Cleve konnte spüren, wie ihm sein Traum entglitt.
    »Nein…« murmelte er, »…laßt mich sehn…«
    Die Dünen bewegten sich. Aber sein Bewußtsein gleichfalls - aus der Stadt und wieder Richtung Zelle. Seine Proteste bewirkten kein Entgegenkommen. Die Wüste zerrann, die Stadt ebenso. Er öffnete die Augen. Die Beleuchtung in der Zelle war noch immer aus. Die Alarmglocke läutete. Aus Zellen auf dem darüber- und darunterliegenden Flur war Gebrüll zu hören sowie das Geräusch von Beamtenstimmen, ein lautstarkes Durcheinander von Erkundigungen und Forderungen.
    Einen Moment lang lag er auf seinem Bett und hoffte selbst jetzt, in die Enklave seines Traums zurückversetzt zu werden.
    Aber nein; der Alarm war zu schrill, die steigende Hysterie in den Zellen ringsum zu übermächtig. Er gab sich geschlagen und setzte sich auf, hellwach.
    »Was’n los?« sagte er zu Billy.
    Der Junge stand nicht an seinem Platz an der Wand. Also schlief er, dieses eine Mal trotz des Getöses.
    » Billy ?«
    Cleve lehnte sich über die Bettkante und spähte in den Raum darunter. Er war leer. Die Laken und Decken waren zurückgeworfen.
    Cleve sprang von seinem Bett herunter. Die gesamte Zelle
    ließ sich mit zwei Blicken erfassen, verstecken konnte man sich nirgends. Der Junge war nicht zu sehen. Hatte man ihn verschwinden lassen, während Cleve schlief? So etwas lag im Bereich des Möglichen; das war die Geisterbahn, vor der Devlin gewarnt hatte: die nicht begründete Verlegung schwieriger Gefangener in andere Anstalten. Cleve hatte noch nie gehört, daß dies nachts geschah, aber für alles gab es ein erstes Mal. Er ging zur Tür hinüber, um zu sehen, ob er aus dem Gebrüll da draußen irgendwie schlau werden könnte, aber es widersetzte sich jeder Deutung. Die wahrscheinlichste Erklärung war vermutlich eine Rauferei: Zwei Sträflinge, die die Vorstellung, eine weitere Stunde im selben Raum verbringen zu müssen, nicht mehr ertragen konnten. Er versuchte, sich daran zu besinnen, woher der erste Schrei gekommen war, von rechts oder von links, von oben oder von unten; aber der Traum hatte die Richtungen ununterscheidbar vermengt.
    Während er an der Tür stand und darauf hoffte, daß ein Beamter vorbeikäme, spürte er eine Veränderung in

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