Das 5. Gebot (German Edition)
Vickys Herzschlag peitschte sie zur Sitzecke. Onkel Willy blinzelte. In der Kraterlandschaft seines Gesichts schimmerten Tränen.
„Zu spät, Vicky, zu spät. Fiona ist von uns gegangen“, krächzte er.
Vicky ließ sich neben ihn in den Stuhl fallen. „Wann?“
„Weiß nicht, vor einer halben Stunde ungefähr.“
„Ich bin zu spät gekommen.“ Vicky starrte fassungslos auf die Uhr, die im Foyer aufgehängt war. Zu spät.
„Hast du noch mit ihr gesprochen?“
„Hab mein Lass noch gesehen. Ja. Überall Verbände. Nur reden konntse nich mehr, Vicky. Der Mistkerl, dieser verdammte Saukerl. Hat ihr den Schädel zertrümmert.“ Onkel Willy ballte die blaugeäderten Hände zu Fäusten.
Vicky spürte, wie sie erstarrte. George kam mit langen Schritten auf sie zugelaufen.
„Oh Gott, tut mir leid“, sagte er, als er die beiden sah. Er setzte sich neben Vicky und legte einen Arm um sie.
„Wie bist du überhaupt so schnell hierhergekommen?“, fragte Vicky ihren Großonkel.
„Haste doch angerufen, bin ich sofort losgefahren“, tönte Onkel Willy durch das Foyer.
„Du bist selbst gefahren?“, fragte George, der ausnahmsweise verstanden hatte, was Willy gesagt hatte. Es waren über dreihundert Kilometer von Sheffield nach Bournemouth. Onkel Willy war sechsundachtzig Jahre alt, und nüchtern war er eigentlich nie. Wenn Onkel Willy in seinen Uralt-Ford stieg, holten die Bürger von Sheffield ihre Autos von der Straße.
„Nee, hab den Studierten rausgeklingelt. Los, Baden fahrn, nach Bournemouth, zum Strand, hab ich gesagt. Hatta gemacht.“
„Auf welcher Station hat sie gelegen? Ich muss mit dem Arzt reden“, sagte Vicky und sprang auf.
„Ich mach mich sachkundig, bleib du mal bei Onkel Willy“, sagte George und drückte seine Frau zurück in den Stuhl.
„Dann hast du ja gar nicht geschlafen“, stellte Vicky fest, als George gegangen war.
„Brauch nich mehr so viel Schlaf.“
„Wir fahren gleich nach Hause. Dann haust du dich erst mal aufs Ohr“, sagte Vicky und sog tief den tröstlichen Geruch von Onkel Willy ein. Er roch ungewaschen, unrasiert, nach einigen Bierchen und viel zu vielen billigen Zigarren. „Jetzt gibt es nur noch uns, Lassie“, sagte er. Die Schultern des alten Mannes, den so schnell nichts in seinem Leben umgehauen hatte, zuckten.
Vicky starrte in das Foyer.
George kam mit einer kleinen Tüte zurück. „Der Arzt ist erst morgen zu sprechen, seine Schicht ist zu Ende“, sagte er. „Aber du kannst deine Mutter noch sehen.“ Vicky schüttelte energisch den Kopf. „Nein, um Gottes willen, nein.“ Vicky schrie fast. „Ich will Mami so in Erinnerung behalten, wie sie immer war. So lieb, so gütig, so lebendig.“ Endlich flossen die Tränen.
Onkel Willy nahm sie in den Arm. „Komm nach Hause, Lassie.“
13. Branksome
Schon von weitem sahen sie, dass Fionas rot geklinkertes Reihenhäuschen weiträumig abgesperrt war. Davor standen Wagen der Dorset Police. Eine Menge Nachbarn hatten sich vor dem Absperrband versammelt. George parkte vor dem Haus der alten Frau Dzembritzki, die selbst kein Auto hatte.
„Da ist Vicky, lasst doch Vicky mal durch“, rief ein alter Mann, an dessen Namen sich Vicky in diesem Moment nicht erinnern konnte. Er wohnte zwei Häuser weiter. Vicky lächelte ihn hilflos an. Die Nachbarn bildeten eine Gasse.
„Vicky, wie geht es Fiona, hast du sie gesehen?“, wollte Sarah wissen, die schräg gegenüber wohnte und mit Fiona befreundet war.
„Mama ist tot“, sagte Vicky leise. Es wurde ganz still.
Victoria spürte, wie Hände nach ihr griffen, sich Arme ausstreckten. Am Absperrband stand ein Polizist. „Dürfen wir ins Haus?“, fragte sie. Diese Frage stellte der Polizist umgehend in ein Walkie-Talkie. „Sie mögen bitte hier draußen warten, Detective Inspector Ferguson kommt gleich“, sagte er kurz darauf.
In diesem Moment trat eine rothaarige Frau aus der Tür, die etwa in Vickys Alter war. „Detective Inspector Ferguson, Madam. Sie sind die Tochter?“
Vicky nickte und stellte sich vor. „Was genau ist passiert? Darf ich ins Haus?“
„Tut mir leid, Mrs. McIntosh, die Spurensicherung ist noch nicht fertig. Danach brauche ich Sie aber dringend, wir würden natürlich gern wissen, was gestohlen wurde. Wo kann ich Sie erreichen?“
Mrs. Dzembritzki hatte den Kopf aus dem Wohnzimmerfenster gesteckt. „Hallo, Vicky, Honey, kommt rein, ihr könnt bei mir bleiben!“, rief sie. Vicky hörte Onkel Willy hinter sich vernehmlich
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