Das 5. Gebot (German Edition)
beobachtete, und fuhr davon.
Seit Vicky in Berlin war, fuhr sie Smart. Im Vergleich dazu fand sie, dass sich der Ford ihrer Mutter erstaunlich leicht fuhr, er glitt wie eine Sänfte die Branksome Wood Road hinunter. Das Einzige, was nicht funktionierte, war der Sicherheitsgurt, er ließ sich einfach nicht aus der Halterung ziehen. Egal, dachte sie, öffnete das Seitenfenster und atmete tief die würzige Seeluft ein.
Es war ein schöner warmer Tag, leider hatte der Feierabendverkehr bereits eingesetzt. Vor ihr versperrte ein LKW die freie Sicht auf die Straßen ihrer Heimatstadt, für deren Atmosphäre sie jetzt besonders empfänglich war. Es war, als würde jedes bekannte Haus sie grüßen, jeder Baum sich ihr zuneigen, jede Straßenkreuzung ihr zuwinken. Am Nachmittag hatte es geregnet, so dass jetzt alles aussah wie frisch gewaschen. Sie schaltete das Radio ein, sie spielten, wie für sie bestellt, „I Just Died In Your Arms“. Victoria sang laut mit, während ihr die Tränen herunterliefen. Sie würde unten an der Küste entlangfahren, entschied sie sich. Hier konnte das Auge sich in der blaugrauen Weite erholen, so ganz anders als in Berlin. Sie mochte die Seen und Wälder rund um ihr neues Zuhause, aber es war eben etwas anderes als hier am Meer mit seinen kilometerlangen Sandstränden. Victoria war früher kein Strandfan gewesen. Strände waren etwas für Touristen, hatte sie befunden. Die Arroganz der besitzenden Klasse, dachte sie nun und musste unwillkürlich lächeln. Der Mensch war einfach nie zufrieden. Hatte er Meer, wollte er Berge, hatte er Berge, wollte er Stadt. Aber heute erschien ihr ihre Heimatstadt wie das verlorene Paradies, wie ein Land, das sie ausgewiesen hatte. Sie sah eine Landschaft, nach der sie sich jetzt schon vor Sehnsucht verzehrte.
Der LKW ging ihr zunehmend auf die Nerven, er versperrte ihr die Sicht. Sie fuhr ein wenig rechts raus, um zu sehen, ob Gegenverkehr kam. Nein, na dann: Kick-down, dachte sie und trat das Gaspedal durch. Sie scherte aus, dachte, ach ja, der hat ja gar keinen Kick-down, sah den über den Hügel entgegenkommenden LKW, hörte die Hupe, sie trat auf die Bremse, warum bremste der Wagen nicht, sie riss das Steuer herum, ihr Kotflügel traf den LKW neben ihr, Blech schrammte an Blech, sie hörte das Kreischen von blockierenden Rädern, Hupen, sie versuchte zu lenken, wohin lenken, es gab keinen Platz, sie war viel zu schnell. Die Bremse, Mädchen, die Bremse! Sie trat mit aller Kraft auf das Bremspedal, der Wagen wurde immer schneller, schleuderte und fuhr direkt auf den entgegenkommenden LKW zu. Sie versuchte gegenzulenken, es ging nicht, die Bremse, verdammt, die Bremse, sie zog die Handbremse, der Wagen brach aus, drehte sich, sie war zu schnell, entsetzlich zu schnell, sie hörte das Hupen, spürte, wie sie von hinten vom LKW erfasst wurde, wirbelte durch die Luft, hörte einen Schrei. War es ihrer?
17. Anne
Der Wind spielte Dudelsack mit den Kiefern. Er schaute hinab auf den Schlachtensee, der heute wie frischer Beton unter dunklen Wolken im Grunewald lag. Er war immer da gewesen, vor seiner Nase, dieser See, dessen ursprünglich slawischer Name Slat nichts mit Schlachten zu tun hatte, auch wenn er sich das gern vorstellte. Er liebte das Schlachtensee-Gedicht von dieser, wie hieß sie doch gleich? Hasskiel? Hesskiel? Hesekiel, genau das war es, Ludovica Hesekiel, was für ein Name!
Der Regen peitscht die Wellen,
die lachende Schar wird stumm.
Am Schlachtensee die Geister
der alten Wenden gehen um.
Als Kinder hatten sie in diesem See geangelt und sich dabei Gruselgeschichten erzählt. Aale, Schleie, Hechte und Zander. „Ich bin der Geist von Albrecht, dem Bären, dem Schröcken der Wenden“, hatte er gerufen und sie mit einem feuchten Aal durch den Grunewald getrieben. „Igittigitt, pfui, hör auf“, hatte Anne geschrien. Sie war gestolpert und der Länge nach ins Schilf gefallen. Er war über sie gefallen. Sie hatten sich geküsst. Es roch nach Aal.
Anne mit den braunen Locken und den großen, braunen Augen. Anne, die bei ihrem Vater Zigaretten klaute, die sie gemeinsam im Wald rauchten. Anne, mit der er Onkel Doktor gespielt hatte, unten im Weinkeller seines Vaters. Anne, mit der man Ruder ansägen und Muster in Vaters Mercedes ritzen konnte. Sie war wie eine Schwester für ihn gewesen, bis zu jenem Tag.
Später hatte er ihr versprochen, ihr einen Stern vom Himmel zu holen. Der Stern war ihr zum Verhängnis geworden. Warum nur war sie
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