Das 5. Gebot (German Edition)
nicht paranoid, sagte sie sich. Aber was sollte sie sonst denken? Die Bremsen und die Lenkung ihres Autos hatten versagt. Nur durch ein Wunder hatte sie überlebt. Und dann kommt mitten in der Nacht jemand in ihr Krankenhauszimmer geschlichen und spritzt irgendetwas in ihren Tropf. So viele Zufälle auf einem Haufen?
Die Panik überflutete Vicky wie ein Tsunami. Ich muss weg von hier, dachte sie, sofort. Aber wohin und, vor allem, zu wem? Wer wusste überhaupt, dass sie hier im Krankenhaus war? Celia. Sarah inzwischen. Und mit Sarah natürlich die ganze Straße. Und Fionas Pfarrer. Und mit ihm die gesamte Gemeinde, wahrscheinlich. George, den sie sofort angerufen hatte, nachdem ihr Celia das Handy für eine Stunde überlassen hatte. Liebe Güte, jetzt verdächtigte sie schon ihre älteste Freundin, die beste Freundin ihrer Mutter, einen Pfarrer und sogar ihr Ehegespons. Nicht wirklich, oder? Vicky, du wirst paranoid. Tatsache aber war, dass irgendjemand ihr nach dem Leben trachtete. Und dieser würde es wieder versuchen, wenn er bemerkte, dass sein Attentat missglückt war. Das hieß, sie wurde beobachtet. Von wem? Und vor allem: weshalb? Sie musste die Polizei rufen. Sofort.
Aber würde man ihr glauben? Vergiss es, Vicky, sagte sie sich. Jeder normale Mensch würde denken, dass ich Halluzinationen habe, von der Gehirnerschütterung, von den Medikamenten, von dem Schock. Die Polizei würde denken, dass ich den Unfall erklären wolle, um nicht zugeben zu müssen, dass ich mich selbst und andere in tödliche Gefahr gebracht habe.
Sie würde sich lächerlich machen. Außerdem, konnte die Polizei sie wirklich schützen? Sie würden sie bestimmt nicht rund um die Uhr bewachen. Also musste sie weg von hier. Und wenn sie sichergehen wollte, dass niemand ihr folgte, dann musste sie schnell verschwinden. Irgendwo untertauchen. Aber wo? Ohne Geld? Sie brauchte Hilfe. Aber wenn mir jemand nach dem Leben trachtet, dachte sie, dann kennt derjenige mein Leben, meine Freunde, meine Adresse. Sie konnte nicht nach Hause, zu George. Da würde man sie sofort finden. Und wenn George wusste, wo sie war, würde er ihr sofort zu Hilfe eilen und damit denjenigen, der sie suchte, auf ihre Spur setzen. Verdammt. Sie musste zu jemandem, zu dem sie keine offensichtliche Verbindung hatte. Also nicht zu ihrer besten Freundin Sylvie nach London oder zu Rachel und Mark, ihren liebsten Freunden. Zu Celia schon gar nicht. Auf die würde jeder sofort kommen, der sie ein wenig kannte. Auf wen konnte sie sich aber sonst verlassen, wem konnte sie vertrauen? Leo. Natürlich, Leo!
Niemand aus ihrem heutigen Freundeskreis kannte Leo. Leo gehörte zur Vor-George- und Nach-Celia-Ära. Leo war die Stimme ihrer Londoner Single-Jahre, ihr Kumpel in durchgemachten Nächten, ihr Tröster bei Liebeskummer, ihr Stilberater in Klamottenfragen, ihr Ratgeber in Beziehungskisten, ihr Seelenwärmer bei Einsamkeit, kurzum, ihr bester Freund. Bis Leo den Bildhauer Ian kennengelernt hatte und sie George. George und Leo waren ebenso wenig kompatibel wie Ian und Vicky. Wenn im Leben aus „ich“ „wir“ wird, dann ist man eben mit Paaren befreundet, die untereinander kompatibel sind. Aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Ian würde Verständnis dafür haben müssen, dass sie Leo jetzt brauchte.
Vicky setzte sich mühsam im Bett auf, allein diese Bewegung verursachte erhebliche Schmerzen. Die Rippen. Gebrochene Rippen dürfen wehtun, sagte sie sich. Sie tappte zum Waschbecken und starrte in den vom Mondlicht sparsam erleuchteten Spiegel. Doch das wenige Licht reichte aus, um zu sehen, dass sie mehr Ähnlichkeit mit einem Horrorfilm-Darsteller nach der Maske hatte als mit Victoria McIntosh. Um ihren Hals lag eine Manschette, ihre Nase war geschwollen, und auf ihrem Gesicht leuchteten hunderte kleine Schnitte, die verklebt und mit irgendeiner desinfizierenden Flüssigkeit beträufelt worden waren. Das linke Auge schimmerte dunkel und darüber war ihr Schopf, sozusagen als Krönung, fest bandagiert. Hilfe, so konnte sie unmöglich in die Nähe von Menschen kommen, ohne aufzufallen wie ein Fliegenpilz. Leise und ganz vorsichtig wegen der Schmerzen öffnete sie die Schranktür. Celia hatte ihr ihre Tasche aus dem Langtry Manor vorbeigebracht, so dass Vicky jetzt frische Kleidung anziehen konnte. Als sie sich die Hosen überstreifte, erfasste sie wieder eine Welle der Übelkeit, fast hätte sie auf den Boden gespuckt. Sie sondierte in der Dunkelheit ihre
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