Das 5. Gebot (German Edition)
Hand. „Komm weiter“, flüsterte er. Die Kellertür zum gegenüberliegenden Haus war nicht abgeschlossen.
„Das Schloss ist seit Jahren kaputt“, sagte Leo, während sie durch den Kellergang in das Treppenhaus traten.
„Was für ein Segen“, sagte Vicky. Sie öffneten die schwere Haustür. Vor dem Haus hielt ein Taxi. Rasch stiegen sie ein, was Vicky bei diesem typischen Londoner Taxi an die Grenzen ihrer körperlichen Möglichkeiten brachte. Beinahe hätte sie vor Schmerzen aufgeschrien. Mit zusammengebissenen Zähnen ließ sie sich in das Plastikpolster sinken.
„Wohin?“, fragten Vicky und der Taxifahrer gleichzeitig.
„Carlos Place“, sagte Leo zum Taxifahrer durch die Trennscheibe.
„Ins Connaught?“, fragte Vicky.
„Exakt. Eins meiner Lieblingshotels in London. Habe schon sehr schöne Nächte dort verbracht“, sagte Leo und zwinkerte ihr zu.
„Zumindest stilvolle“, sagte Vicky. Während der Fahrt nach Mayfair reservierte Leo über seine Hotel-App ein Zimmer. „Häseken, du wirst das Bett mit mir teilen müssen, ich lass dich heute Nacht nicht aus den Augen.“
„Danke“, flüsterte Vicky. Sie war am Ende ihrer Kräfte.
33. Petra
Warum? Warum? Warum? Was haben wir falsch gemacht? Die Antwort auf diese Frage scheint ganz einfach. Nichts. Nichts. Nichts.
Am Anfang, da hatte er sie kaum wahrgenommen. Hatte ja keine Zeit damals, für so was. Hatte den Kopf voll mit anderem. War einfach nicht da. Ging doch, machten doch alle so. Oder nicht?
Sie war hübsch, ja. Blitzende braune Augen, braune Locken. Manchmal, da sah er ihr Bild im See, wie sie die Nacktschnecken vom Gartenweg räumte und ins Gras beförderte. Damit niemand drauf trat. An schlechten Tagen brachte der Wind ihre bohrenden Fragen zurück. Wo warst du? Was hast du getan? WAS HAST DU GETAN? So lange her. Und er musste an Anne denken. Was hatte er getan? Nichts. Eben.
Die meiste Zeit ging sie ihm auf die Nerven. Sie war zu laut, hatte zu viel Temperament. Nein, Petra war kein Luder. Das war es, was er am meisten bedauert hatte. Sie war nicht raffiniert genug, um ein Luder zu sein. Sie war nicht wie die anderen. Sie war wie er. Ein Dickschädel, ein Sturkopf. So ehrlich, dass es wehtat. So weh, so weh. Sie hatte sein Herz zum Frühstück verspeist. Ja, er hatte sich gewünscht, dass sie nie geboren worden sei. Die Raubkatze hatte einen Namen: seinen.
Petra war die Fünfte. Sie verschwand spurlos. Man hat ihre Leiche nie gefunden. Die Polizei sucht noch heute nach ihr. Sie hinterließ Fragen. Auf die er bis heute keine Antwort gefunden hatte. Niemand hatte auf seine Fragen geantwortet. Sie hielten zusammen, hatten sich gegen ihn verbündet. Was war nur schiefgelaufen in seinem Leben? Und warum? Was hatte er falsch gemacht? So viele Tote, so viel Blut. Er hatte versucht, sie zu vergessen. Kann man das? Kann man so was vergessen? Niemals, niemals, niemals.
34. Lyon
Es war bereits halb zwölf, als sie mit dem gemieteten, anthrazitfarbenen SUV den Flughafen Saint-Exupéry in Satolas verließen. Leo hatte sich hinters Steuer geklemmt, und Vicky bekam die Aufgabe zugewiesen, das Navi mit der Adresse zu füttern. Danach versuchte es Vicky mit ihrem Handy erneut bei George. Wieder erreichte sie nur die Mailbox, aber sie konnte ihm wenigstens die neue Handynummer und die Hoteladresse durchgeben. Sie kriegte komische Nachrichten von SFR, die sie nicht verstand, man wollte sie wahrscheinlich über die Roaminggebühren informieren.
„Nicht rumspielen, du sollst mich leiten, Häseken.“
Das Navi sprach zwar auch Englisch, aber wie immer waren die Ansagen so, dass man sich auch abendfüllend verfahren konnte, wenn man sich um fünfzig Meter verschätzte. „Achte unbedingt auf die Entfernung. Wenn wir hier falsch abbiegen, müssen wir ewig durch den falschen Tunnel fahren.“
Sie fuhren zuerst zu ihrem Hotel in der Rue du Bœuf, wo sie eincheckten und anschließend einen kleinen Imbiss nahmen. Dann war es auch schon Zeit, um in das Büro von Isabelle Girard am Quai Claude Bernard zu fahren.
Unter anderen Umständen hätte Vicky die Fahrt genossen. Sie hatten die Rhône überquert, um an das andere Flussufer zu gelangen. Die Sonne strahlte durch das junge Grün der Platanen, die die Straße entlang der Rhône säumten. Am Ufer dümpelten hintereinander vertäute, weiße Flusskreuzfahrtschiffe.
Vicky fühlte sich sehr viel besser als am Tag zuvor. Sie hatte erstaunlich gut geschlafen und dank Olis Pillen kaum noch
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