Das 5. Gebot (German Edition)
sie nicht ans Telefon? War das Telefon vielleicht bei dem Unfall kaputt gegangen? Aber dann hätte sie sich ein neues besorgt und zumindest in der Firma angerufen. Warum rief sie nicht an? Warum war sie aus dem Hotel abgereist? Warum schickte sie ihm nicht wenigstens eine Mail? Er hatte regelmäßig die Mails kontrolliert, nichts. Ihm war richtiggehend schlecht vor Sorge um Vicky. Hatte sie etwa ihr Gedächtnis verloren? Was sollte er tun? Nach England fliegen? Im Büro hatte sie auch nicht angerufen. Zu allem Überfluss war auch noch seine Sekretärin ab dem Nachmittag nicht mehr im Hause gewesen, weil sie einen Termin bei ihrem Zahnarzt hatte. Und er hatte sich kaum auf seine nicht enden wollenden Sitzungen konzentrieren können. Auch die Dorset Police konnte ihm nichts Neues berichten.
Als er am Abend nach Hause kam, holte er die Post aus dem Postkasten und schmiss sie im Eingang in die gelbe Schale mit dem Papageienmotiv, in der sie auch ihre Schlüssel aufbewahrten. Auf dem Heimweg war er noch beim Chinesen am Selmaplatz vorbeigefahren und hatte sich eine große Portion Nummer 43 zum Mitnehmen bestellt, Rindfleisch mit Morcheln und Glasnudeln. Mit einem erleichterten Aufstöhnen streifte er seine Schuhe ab. Als Erstes ging er zum Anrufbeantworter. Keine einzige Nachricht. Als er gestern Abend aus Frankfurt gekommen war, hatte er es gesehen: Sie hatten offensichtlich bei ihrer überstürzten Abreise nach Bournemouth vergessen, den Anrufbeantworter einzustellen. Und am ersten Abend zu Hause war er einfach zu müde gewesen, um das zu merken. Oder zu betrunken, fügte er in Erinnerung an den Wein und die drei Grappa hinzu. Aber auch heute Abend war kein Anruf aufgezeichnet worden.
Er nahm den Telefonhörer und drückte auf die Taste für verpasste Anrufe. Es war kein einziger Anruf eingegangen. Er stellte den Anrufbeantworter wieder ein. Warum rief sie nicht wenigstens an? Was war nur passiert? George ging ins Schlafzimmer und entledigte sich seiner Uniform, wie er seine blauen und anthrazitfarbenen Anzüge zu nennen pflegte. Er wickelte sich in seinen weichen, smaragdgrünen Bademantel und ging in die Küche, wo er sich ein Bier aus dem Eisschrank holte.
Er beschloss, dass man Nummer 43 sehr gut aus der Stanniolform essen konnte. War ja keiner da, den es stören könnte. Und da sich niemand mit ihm unterhalten würde, holte er sich aus dem Flur noch die Post, denn zwischen der Werbung hatte er den Economist hervorblitzen sehen. Das würde ihn ein bisschen von seinen Sorgen ablenken. Er stapelte die Post auf den Tisch, legte die Füße auf den Stuhl, zog sich Nummer 43 heran und schlug, wie immer, den Economist von hinten auf. Nummer 43 war zwar nur noch lauwarm, aber es reichte, um satt zu werden. Er träufelte ein bisschen Sojasauce aus dem Plastikbecher darüber. Da fiel sein Blick auf einen handbeschriebenen, handgeschöpften Umschlag. Er griff nach dem Brief, der an seine Frau gerichtet war. Der Absender war ein gewisser Gerhard Grunwald. Seit wann bekam seine Frau Post von unbekannten Männern? George befingerte den Brief. Das Papier war dick, der Absender wohnte in der Terrassenstraße in Berlin. Die Schrift war fast unleserlich. Was soll’s, sagte er sich und öffnete den Brief. Schließlich musste er ihre Post öffnen, falls es etwas gab, das ihm einen Hinweis darauf lieferte, wo er sie erreichen konnte. Er faltete den teuren Briefbogen auseinander und las:
Sehr geehrte Mrs. McIntosh,
dieser Brief wird Sie sicher ein wenig erstaunen. Vielleicht werden Sie diese Zeilen als Unverschämtheit oder zumindest als Zumutung empfinden. Darum möchte ich mich zunächst einmal vorstellen. Mein Name ist Gerhard Grunwald. Ich werde demnächst neunzig Jahre alt. Eine Belästigung sexueller Natur können Sie also getrost ausschließen.
Seit einigen Wochen beobachte ich Sie, wenn Sie Ihren morgendlichen Waldlauf machen. Bitte verzeihen Sie mir, aber ich habe Sie sogar einmal angesprochen, am Ufer des Schlachtensees. Ich wollte einmal Ihre Stimme hören und Sie von Nahem sehen, um ganz sicherzugehen.
Woher weiß er meinen Namen, werden Sie sich jetzt fragen. Sehr geehrte Mrs. McIntosh, ich habe einen sehr guten Grund dafür gehabt, Ihren Namen und Ihre Adresse in Erfahrung zu bringen. Dieser Grund ist familiärer Natur und absolut ungeeignet, in einem Brief in ein paar Sätzen erklärt zu werden.
Ich habe eine sehr große Bitte an Sie: Rufen Sie mich an. Telefon: 824 12 420. Bitte!
Verzeihen Sie mir, dass ich
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