Das 5. Gebot (German Edition)
abgestellt hatte. Vicky und Leo setzten sich auf die eine Seite des Tisches, Dominique auf die andere. Er öffnete das Ultrabook und sagte: „Ich versuche es jetzt mal bei Yahoo.“ Kurz darauf schaute er über den Rand des Notebooks Vicky an. „Kommt her, ich bin drin.“
Leo war aufgesprungen, und auch Vicky erhob sich. Sie setzten sich links und rechts neben Dominique, der Isabelles Posteingang öffnete.
Er scrollte die Mailbox rauf und runter. „Da ist nichts, was interessant sein könnte. Das sind alles Mails von Freunden, Kopien von Facebook-Nachrichten, nichts Unbekanntes.“
„Geh doch mal in die gesendeten Mails“, sagte Vicky.
„Moment, hier ist eine .de-Adresse“, rief Leo und zeigte auf eine Adresse, die sich zwischen all den .fr-Nachrichten versteckt hatte.
43. Schlachtensee
George saß in einem bequemen Korbstuhl mit dicken Polstern, die Sonne war bereits hinter dem Schlachtensee untergegangen. Er musterte den alten Mann, der ihm gegenübersaß. Gerhard Grunwald war eine beeindruckende Gestalt. Ein Gesicht wie aus Stein gemeißelt, stechende graue Augen unter weißen, buschigen Augenbrauen. Sein Haar war immer noch voll und schneeweiß. Solange er saß, wirkte er groß und mächtig. Dabei war er George an der Tür sehr hager erschienen, früher war er vielleicht sogar mal groß gewesen. Aber jetzt ging er gebeugt am Stock. George vermutete einen Schlaganfall, denn seine rechte Hand schien er nicht zu gebrauchen.
„Sie haben mir gesagt, dass Vicky glaube, ihre tote Zwillingsschwester gefunden zu haben. Ich möchte Ihnen einige Fotos zeigen“, sagte der alte Mann und öffnete eine Kiste, die er neben sich auf dem Tisch stehen hatte. Sie war mit einem altmodischen Blumenmotiv überzogen.
Grunwald nahm ein Foto, das offensichtlich ganz oben in der Kiste lag, und reichte es George mit zitternder Hand. Es war ein altes Bild, schwarz-weiß mit einem gezackten Rand, an der Ecke hatte es ein Eselsohr. Es wirkte, als sei es tausendmal betrachtet worden, es war wohl sein Bild aus glücklichen Tagen. Es zeigte eine langbeinige, schlanke, elegante Frau in einem hellen Kostüm mit Bleistiftrock und Bolerojäckchen. Sie trug die Haare in halblangen, dunklen Wellen, ihre dunklen Augen schauten fast ein wenig spitzbübisch in die Kamera, an der Hand hielt sie ein kleines, etwas pummeliges Mädchen in einem weißen Faltenrock, Lackschuhen und Söckchen. Die Frau war eine Schönheit. Sie sah aus wie Vicky.
„Das ist Trudi, meine Frau, mit unserer Tochter Petra.“
George schüttelte fassungslos den Kopf. „Das gibt es doch gar nicht, so eine Ähnlichkeit.“
„Warten Sie ab, es kommt noch besser.“ Wieder griff der Mann in seine Kiste, diesmal holte er ein Foto hervor, das eine bildhübsche junge Frau zeigte, mit einer dunklen Afro-Mähne und großen Augen, die von einem kohlpechschwarzen Lidstrich dick umrandet waren.
„Das ist meine Tochter Petra. Da war sie 20. Da war sie noch ein ganz normales junges Mädchen. Ein bisschen zu ehrgeizig vielleicht, aber ganz normal, ganz normal.“
George griff nach dem Foto. Petra war ihrer Mutter Trudi wie aus dem Gesicht geschnitten, das konnten auch der dicke Lidstrich und die schreckliche Frisur nicht verbergen. Und sie sah haargenau aus wie Vicky. Wie Vicky vor ein paar Jahren, damals, als sie sich auf dem Camden Market in London in die Arme gelaufen waren.
„Was ist passiert?“, fragte George, der bereits ahnte, dass der alte Mann ein tragisches Geheimnis hatte.
„Sie ist in die falschen Kreise gekommen, meine Kleine. So viel Leid, sie hat so viel Leid über uns gebracht. Dabei war sie ein gutes Kind, nicht wahr.“
Der Alte nahm mit der linken Hand zitternd ein Glas mit Wasser vom Tisch und trank einen Schluck.
„Sie wollte unbedingt in Hamburg studieren, meine kleine Petra. Jura und Wirtschaftswissenschaften. Das ist doch nichts für ein Mädchen , habe ich gesagt. Aber sie wollte nie ein Mädchen sein, hat sich schon als kleines Kind benommen, wie ein Lausbub. Es gab keinen Baum, der für sie zu hoch war. Warum wirst du nicht Lehrerin? Da hast du viele Ferien und lernst etwas, das du später als Mutter brauchen kannst , habe ich gesagt. Sie wollte nicht Mutter werden, sie wollte mit den großen Jungs spielen. Natürlich konnten wir es ihr nicht abschlagen, ich konnte nie Nein sagen, wenn meine Frauen mich mit diesen großen Kulleraugen angeguckt haben, nicht wahr, Sie wissen, wovon ich rede.“
George nickte lächelnd. Natürlich würde
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