Das 5. Gebot (German Edition)
Raffinesse, von Trudis Charme. Sie kletterte auf Bäume, und spätestens nach einer halben Stunde draußen war ihr weißes Faltenröckchen schwarz vor Dreck. Guck mal, Vati, was ich kann ...
Sie sei auf ihn fixiert gewesen, sagten sie später. Sie habe ihm etwas beweisen wollen. Verdammt, er wollte keine Tochter, die ihn imitierte. Wenn schon ein Mädchen, dann wenigstens ein kleines Luder. Aber das hatte er ihr nie gesagt, natürlich nicht. Er hatte sie ja trotzdem geliebt, schließlich war sie sein eigen Fleisch und Blut. Und sie war unbestritten ein Ass in der Schule, kaum eine Sportart, in der sie nicht brillierte. Er hatte gehofft, dass sie irgendwann heiraten würde. Und dann würde man sehen. Vielleicht könnte der Schwiegersohn die Firmen übernehmen. Sie war hochintelligent. Und solange sie in Berlin gewesen war, war auch alles gut. Natürlich stritten sie sich. Warum wollte sie ihm auch unbedingt eine Schuld einreden, die er nie empfunden hatte? Er hatte doch nichts getan. Er war doch viel zu jung gewesen, damals, unter den Nazis.
Später ging Petra nach Hamburg, um zu studieren. Kaum war sie ein paar Monate fort, war sie schwanger von diesem Wirrkopf. Wenn der sich nicht selbst in die Luft gesprengt hätte, hätte er das eigenhändig übernommen. Und Gott hätte ihm dabei sicher geholfen!
Nein, natürlich war es nicht seine Tochter Petra, die ihn gefragt hatte, ob ihre Zwillinge bei ihnen in Berlin bleiben könnten. Es war Trudi, die ihm schonend beibrachte, dass sie ab sofort zu viert seien in ihrem Haus am Schlachtensee. Dass in ihrem vorgerückten Alter plötzlich gleich zwei Babys ihr Leben und ihre Kreise störten. Sie waren absolut hinreißend, diese beiden Bündel mit den riesigen, dunklen Augen. Trudi war verzaubert, und auch er konnte sich dem Charme der beiden Mädels schwer entziehen. Auf ihre alten Tage fühlten sie sich plötzlich wieder wie junge Eltern. Sie hätten wissen müssen, dass das nicht lange gut gehen konnte. Die Raubkatze lauerte bereits im Gebüsch. An einem Freitagnachmittag schlug sie zu: Susanne und Lothar starben im Kugelhagel von Petras Revoluzzerfreunden. Seine eigene Tochter hatte seine besten Freunde verraten. Vier Wochen später wollte die Polizei Petra und ihre Freunde festnehmen. Die Kugel, die Gabriele tötete, hatte einem Polizisten gegolten. Kollateralschaden. Es war seine Tochter gewesen, die Gabriele erschossen hatte. Eine Woche danach waren ihre Zwillinge spurlos aus seinem Haus in Schlachtensee verschwunden.
Trudi, seine geliebte Frau, war die Vorletzte. Sie hatten keine Worte mehr gefunden, füreinander, zueinander. Das Entsetzen war sprachlos, namenlos geblieben. Hatte sich zwischen sie geschoben. Und nun seht, wie ihr damit fertigwerdet. Sie waren nicht damit fertiggeworden. Lagen nachts schlaflos nebeneinander im Bett. Zogen sich immer mehr zurück, lebten hinter dicken, grauen Mauern, die Vorhänge zugezogen, geschützt vor neugierigen Blicken. Wohnen da nicht die ...?
Jetzt also auch seine Enkelin. Birgit oder Manuela? Die Tränen rannen ihm über die zerfurchten Wangen. Was hatte er getan, was hatte er nur getan, dass Gott ihn so sehr strafte? Er holte ein gebügeltes Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich das Gesicht trocken. Niemand sollte Gerhard Grunwald je weinen sehen.
„Frau Birkholz“, rief er seine Haushälterin, „wir bekommen gleich Besuch, bitte richten Sie den Wintergarten für zwei Personen her.“
42. Tassin-la-Demi-Lune
Endlich war es Zeit aufzubrechen. Dominique Durand würde bereits auf sie warten. Leo bezahlte die Rechnung und bat den Kellner, ein Taxi zu bestellen. Als sie dem Taxifahrer die Adresse nannten, murrte dieser ein wenig, offenbar war die Adresse in fußläufiger Nähe. Die Taxifahrer in Lyon waren also nicht weniger unfreundlich als ihre Kollegen in London oder Berlin.
Leo hinterließ dem Taxifahrer ein dickes Trinkgeld, nachdem dieser mit einem vorwurfsvollen „äh bäh“, dem Lieblingslaut aller mürrischen Franzosen, vor einer Toreinfahrt gehalten hatte. Man sah von außen so gut wie nichts von dem Haus, das von einer mannshohen Mauer umgeben war, die ebenso grau war wie das Tor, und inzwischen wurde auch der Himmel grau, es schien sich ein Gewitter anzukündigen. Vicky drückte auf den Klingelknopf. Sie entdeckte eine Kamera, die oben auf der Mauer angebracht war, und hielt ihr Gesicht in diese Richtung.
Nach einer gefühlten Viertelstunde öffnete sich das graue Tor mit einem leisen
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