Das 5. Gebot (German Edition)
Schwiegermutter. „Die Florence Nightingale von Branksome.“ Natürlich erzählte er ihm auch, dass Fiona einem Raubmord zum Opfer gefallen war. Und dass Vicky aus einem Krankenhaus geflohen war.
„Wir werden Hilfe brauchen.“ Gerhard Grunwald zog sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. „Sind Sie noch wach?“, bellte er ins Telefon.
George sah verstohlen auf die Uhr. Es war bereits nach elf Uhr abends. Man musste jemanden schon sehr gut kennen, um ihn um diese Zeit anzurufen. Oder ihn sehr gut bezahlen, schoss es ihm durch den Kopf. Gerhard Grunwald beorderte den „guten Peter“ zu sich nach Hause. Wer auch immer das war.
44. Tassin-la-Demi-Lune
„Hier ist eine Mail in Englisch an eine Detektei in Berlin“, sagte Dominique. Er las laut vor:
Sehr geehrter Herr Winter,
wie ich Ihnen bereits telefonisch sagte, habe ich die Adresse Ihrer Detektei als Empfehlung von einem Lyoner Kollegen erhalten, für den Sie einmal in einer delikaten Angelegenheit in Deutschland recherchiert haben.
Ich möchte mich Ihnen noch einmal kurz vorstellen. Mein Name ist Isabelle Girard, ich bin achtunddreißig Jahre alt und werde demnächst heiraten. Meine Mutter, Juliette Girard, hat sich vor einigen Wochen das Leben genommen und hat mir ihre Beweggründe dafür in einem ausführlichen Abschiedsbrief erläutert, der der Grund meiner Anfrage ist.
In der Anlage übersende ich Ihnen den gescannten Brief als pdf. Ich bitte Sie, in Deutschland nach vermissten Personen zu suchen, die in der Zeit, die in diesem Brief angegeben ist, verschwunden sind, um so meine Familie vielleicht ausfindig zu machen. Ich weise Sie darauf hin, dass ich in keinem Fall einen Kontakt zu eventuellen Familienmitgliedern herstellen will. Ich werde demnächst heiraten, wir wünschen uns ein Kind und ich möchte jetzt wissen, welche Vorfahren ich habe.
Bitte senden Sie mir Ihre Vorschuss-Rechnung zum Zeichen Ihres Einverständnisses. Ich freue mich auf Ihren Anruf.
Mit freundlichen Grüßen
Isabelle Girard
„Gibt es da einen Anhang?“, fragte Vicky aufgeregt.
Dominique nickte, öffnete den Anhang. Er überflog das Schreiben und zeigte es Leo. „Das ist ein ziemlich langer Brief auf Französisch. Ich schätze mal, ich sollte das für Vicky übersetzen. Er ist von Juliette, Isas Mutter.“
Leo fing an zu lesen.
45. Juliette
Geliebte Isabelle,
wenn Du diesen Brief erhältst, werde ich hoffentlich meine Ruhe gefunden haben und bei meinem Schöpfer sein. Sollten meine diesbezüglichen Versuche nicht erfolgreich sein, so bitte ich Dich, von allen lebensverlängernden Maßnahmen abzusehen. Ich bin bereit für den Tod. Schon sehr lange.
Ich halte diese entsetzlichen Schreie nicht mehr aus. Solange Du noch klein warst und ich mich um Dich kümmern musste, haben sie mich nur nachts aus dem Schlaf gerissen. Wenn ich dann Deine Schultasche gepackt oder Dir das Frühstück bereitet habe, verstummten sie. Wenn ich mit meinen behinderten Kindern gearbeitet habe, schwiegen die Stimmen. Aber jetzt höre ich die Schreie Tag und Nacht. Ich kann die Stimmen unterscheiden, oh ja, jede einzelne hat einen Namen, heute noch, nach all den Jahren. Ich höre das Wimmern der Babys, das Weinen der Kinder, Isabelle.
„Moment, Moment mal, so schnell kann ich nicht verstehen, was da steht. Kannst du das drucken?“
„Klar“, sagte Dominique, „ich drucke uns gleich drei Exemplare, dann können wir gemeinsam lesen.“ Während Dominique nach oben ging, um den Brief aus dem Drucker zu holen, übersetzte Leo den Anfang des Briefes.
„Oh Gott“, sagte Vicky, „das hört sich ja furchtbar an.“ Leo übersetzte weiter, das Drucken schien länger zu dauern.
Die Ärzte haben mir Psychopharmaka verschrieben, gegen die Stimmen. Ich brauche keine Psychopharmaka, nie wieder will ich Psychopharmaka nehmen. Ich bin nicht psychisch krank, und ich bin auch nicht verrückt. Depressionen nennen das die Ärzte, psychotische Symptome, aber was wissen die schon. Du wirst vielleicht bald selbst Mutter sein, eine bessere, als ich es jemals war. Hab keine Angst vor Deinen Genen, mein liebes Kind. Deine Mutter war weder verrückt noch war sie eine Selbstmörderin.
Wer seine Geschichte verleugnet,
der ist dazu verdammt,
sie zu wiederholen.
Diesen Satz fand ich auf einem Schild, an einem Ort, der das Paradies hätte sein sollen.
Und wie ich meine Geschichte verleugnet habe. Ich habe geschwiegen, geleugnet und gelogen. Alle habe ich angelogen, meine Familie, meine
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