Das 5. Gebot (German Edition)
zu legen. Sie klammerten sich aneinander und weinten sich gegenseitig in den Schlaf, sie waren total erschöpft. Zum ersten Mal seit dem Grauen im Camp saßen wir uns gegenüber und sahen einander an.
Wie geht es jetzt weiter? Was machen wir hier eigentlich? Warum sind wir nicht geblieben? Was ist passiert? Nicht einmal die letzte Frage konnten wir beantworten, denn wir waren nicht dabei gewesen. Unsere Brüder und Schwestern – hatten sie wie so oft das rote Zuckerwasser getrunken, nur dass es diesmal wirklich Gift war? Wir hatten aber auch Schüsse gehört. Waren vielleicht diejenigen erschossen worden, die sich geweigert hatten, Gift zu trinken? Bei den Kindern hatten wir Spritzen gefunden. Aber wer hatte unsere Kinder vergiftet? Der CIA, die Kapitalisten, Dad, unsere Brüder und Schwestern?
Doch ganz gleich, wer die Schüsse abgefeuert, die Spritzen gesetzt hatte. Ganz gleich, ob die Frauen und Männer freiwillig Gift getrunken haben. Wir haben unsere Kinder getötet! Ich, Juliette Girard, habe meine Tochter Isabelle umgebracht. Ich habe mein schönes, kleines Mädchen getötet, indem ich ihr nicht geholfen habe, ich nicht für sie da war, indem ich sie in dieses Dschungelcamp gebracht habe, das ich für das Paradies hielt. Ich bin die Mörderin, ich ganz allein.
Fiona sprach das aus, was ich dachte. „Wir haben sie umgebracht. Wir haben unsere eigenen Kinder umgebracht.“
In diesem Moment ging die Tür der Kajüte auf. „Hunger“, sagte eines der beiden Mädchen, von dem wir nicht wussten, wie sie wirklich hieß. Conny und Kathie waren bestimmt nicht die richtigen Namen von den Zwillingen, ebenso wie Monika garantiert nicht auf den Namen Monika getauft war. Wie sollte eine Frau, die einen Pass der Deutschen Demokratischen Republik hatte, hinter dem Eisernen Vorhang aufgetaucht sein, mit über hunderttausend westdeutschen Mark in der Tasche? Monika war mit ihren Zwillingen auf der Flucht, davon mussten wir ausgehen. Vor wem oder was – wir wussten es nicht.
Ich stand auf und nahm das Mädchen auf den Arm. „Willst du eine Suppe?“, fragte ich auf Deutsch, das ich in der Schule gelernt hatte. Das Mädchen nickte und steckte seine kleine Nase an meinen Hals. Ich hielt das Kind ganz fest und streichelte seine warme, weiche Haut, seine weichen, dunkelbraunen Ringellöckchen. „Nie, nie, nie, werde ich dich alleine lassen, mein Kind, meine Kleine, ich verspreche es dir, ich werde auf dich aufpassen, solange ich lebe, damit dir kein Unheil geschieht, meine süße Kleine, meine Isabelle“, flüsterte ich.
Ich hielt Dich ganz fest, ich habe Dir an diesem Abend in dieser Kajüte versprochen, Dich nie wieder loszulassen, und ich habe Dich nie wieder losgelassen, ich war immer für Dich da, solange Du mich brauchtest, meine große, wunderbare Tochter Isabelle. Ich flößte Dir eine Suppe ein, und nachdem Du gierig die Hälfte geschlürft hattest, sagtest Du auf Deutsch: „Ela hat auch Hunger.“ Fiona ging mit einer Schale Suppe zu Deiner Schwester.
Wir haben nie wieder darüber gesprochen, was wir zu tun haben. Wir wussten es. Gott hatte uns unseren Weg gezeigt. Am nächsten Morgen fuhren wir mit Dir und Deiner Schwester Richtung Venezuela.
Tagsüber stand Fiona am Steuer, während ich mich um Euch kümmerte. Der Fluss wurde immer breiter. Die Grenze verlief laut Karte da, wo der Amacuro den Kaituma kreuzte. Wir hofften, dass wir die Grenze passiert hatten, so genau wussten wir das nicht, denn wir hatten bis auf ein paar Indianeransiedlungen am Ufer kein menschliches Wesen gesehen. Wir haben es tatsächlich zum Orinoco geschafft, zu diesem wunderbaren, breiten Strom, der uns den Weg in die Zukunft zu weisen schien. Wir wussten nichts über Venezuela, außer dass die Hauptstadt Caracas hieß. Da wollten wir hin, denn dort würde es Botschaften geben, die uns neue Pässe ausstellen konnten. Aber wie kam man nach Caracas? Bahnstrecken sahen wir nicht auf der Karte, ein Auto hatten wir nicht, und an den Ufern des Orinoco sah es auch nicht so aus, als würde von dort ein Pendelverkehr nach Caracas verkehren. Also fuhren wir weiter ins Landesinnere, vorbei an Frachtkähnen, die mit Erdschätzen beladen waren. Bis jetzt waren wir auf einsamen Wasserstraßen unterwegs gewesen, der Orinoco war ein anderes Kaliber. Wir beschlossen, den Fluss so schnell wie möglich zu verlassen, möglichst in einer größeren Stadt, aus der wir gut wegkommen könnten.
Und dann sahen wir sie: Eine majestätische Hängebrücke
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