DAS 5. OPFER
sein schienen. Sie arbeitete im Büro der Grundschule von Brighton Falls. Sie tippte Memos, machte die Aktenablage und führte Buch darüber, wer abwesend war. Während des Sommers arbeitete sie nur zwei Nachmittage die Woche. Heute trug sie ihre übliche Zuhause-Garderobe: weite Hose und Shirt und die fleckige und abgetragene Fischerweste und den Hut, die ihrem Vater gehört hatten und ihr viel zu groß waren, und die sie für eine Frau von einundvierzig Jahren seltsam kleinmädchenhaft wirken ließen.
»Es ist nicht richtig«, sagte Lorraine und zog ihr bestes Saure-Gurken-Gesicht. »Dich aufzuwecken, wenn sie sich in diesem Zustand befindet.«
»Sie war spät noch zur Probe«, sagte Reggie. »Sie müssen danach noch etwas trinken gegangen sein. Du weißt, was Mom sagt – das gehört alles zum Leben am Theater dazu.«
Lorraine blickte finster. »Schließ nachts deine Tür ab, Regina.«
Reggie kippte ihren Saft auf ex hinunter, nickte und eilte aus der Küche.
SIE HOLTE IHR RAD MIT ZEHNGANGSCHALTUNG aus der Garage und fuhr die Einfahrt hinunter. Die Parade zum Memorial Day würde bereits angefangen haben – es war das größte Ereignis des Jahres in Brighton Falls und kündigte den Beginn des Sommers an. Der arme Charlie musste im Park für den Lions Club Eis verkaufen. Sein Onkel Bo, dem die örtliche Ford-Verkaufsvertretung gehörte, hatte ihn da hineingezogen, zusammen mit Bos Sohn Sid. Charlies Vater würde in der Parade einen der neuen Crown Victorias der Polizeidirektion fahren.
Während Reggie radelte, stellte sie sich Charlies Reaktion auf ihren neuen Haarschnitt vor – er würde zweimal hinsehen, zuerst nicht sicher sein, ob sie es überhaupt war, und dann würde er nicht mehr in der Lage sein, seine Augen von ihr zu lassen. Der Haarschnitt war schick, hatte ihre Mutter ihr gesagt. »Zum ersten Mal in deinem Leben versteckst du dich nicht hinter deinen Haaren.«
Reggie bog am Ende der Auffahrt links auf den Stony Field Drive ab, dann nach rechts in den Country Club. Die dünnen Reifen ihres Rades rumpelten, als sie die Eisenbahnschienen überquerte. Der Wind zerraufte ihre kurzen Haare, die Sonne wärmte ihr neues Latex-Ohr.
Sie kam an der städtischen Autowerkstadt vorbei, an Millers Farm, und fuhr unter dem Eisenbahngerüst hindurch, das jedes Jahr von der Abschlussklasse bemalt wurde: DIE KLASSE VON 1985, ROCK AND ROLL FOREVER , sagten die Buchstaben in tropfender roter Farbe.
Die Main Street war von Leuten auf Klappstühlen gesäumt. Reggie konnte die Blaskapelle der Highschool hören, als sie näher kam, während sich Schweiß zwischen ihren Schulterblättern sammelte. Sie spielten: »Stars and Stripes Forever«. Kleine Kinder schwenkten winzige amerikanische Flaggen. Ein Typ an einer Ecke verkaufte Ballons, Plastikschwerter und Kindergewehre, die wie Champagnerkorken knallten, wenn die Jungen sie über die Straße hinweg aufeinander abfeuerten.
Reggie fuhr im Zickzack durch die Menge, zusammen mit der Parade in Richtung Süden auf der Main Street zum Park. Sie spürte die Aufregung der Menge und hatte das Gefühl, dass sie Teil von etwas war, das so viel größer war als sie selbst. Das war ihre Stadt. Das waren Menschen, die sie kannte. Menschen, für die ihr Großvater Schuhe gemacht hatte. Menschen, mit denen ihre Mutter und Tante zur Schule gegangen waren. Sie hielt ihren Kopf hoch, während sie fuhr, wünschte sich, dass jemand in der Menge sie erkannte, sagte, was für einen hübschen, schicken Haarschnitt sie hatte, wie erwachsen sie jetzt aussah.
Sie erreichte den Park und sprang von ihrem Rad. Am Rand der Grasfläche stand ein einbeiniger Mann in einem Rollstuhl an einem Tisch, an dem Spenden für behinderte Kriegsveteranen gesammelt wurden, und verteilte künstliche, leuchtend rote Mohnblumen. Reggie lächelte ihn an, griff in ihre Tasche, suchte nach einem Vierteldollarstück und wickelte den Drahtstängel der Mohnblume, die er ihr gab, um den Lenker ihres Fahrrads.
Der Lions Club hatte im Park Zelte aufgebaut, mit langen Tischen darunter. Sie waren dabei, Hotdogs zu grillen und Wassermelonen in Stücke zu schneiden. Reggie entdeckte Charlie ganz am Ende, wie er Eiscreme zu Kugeln formte. Er trug eine Schürze vom Lions Club und sah total unglücklich aus. Sein Cousin Sid stand neben ihm, und Reggie dachte, dass die beiden nicht unterschiedlicher sein konnten. Charlie war klein und drahtig, mit seinen zu kurzen Haaren und riesigen, braunen Augen, die Reggie an einen Lemuren
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