DAS 5. OPFER
Rollkragenpullover und einen Cordblazer mit Ellbogenflecken. Sie hatte eine schreckliche Brille mit Pilotenrahmen und etwas Grünes zwischen ihren Zähnen hängen. Sie roch schwach nach Knoblauch. Reggie war hungrig gewesen, als sie in das Krankenhaus kam, und jetzt grummelte ihr Magen in unfreundlicher Weise. Carolyn wies auf einen gepolsterten Stuhl mit verdächtigen dunklen Flecken, auf den sich zu setzen Reggie keinen Wunsch verspürte. Sie schaute sich um und sah, dass die einzige Alternative war, stehenzubleiben, also hockte sie sich auf den Rand des Stuhls, ihre lederne Umhängetasche zu ihren Füßen.
»Wie Sie sich vorstellen können«, sagte Carolyn und rutschte auf ihrem eigenen Stuhl nach vorne, sodass ihr Bauch gegen den überquellenden Schreibtisch gedrückt wurde, »tun wir unser Bestes, dies so stillschweigend und sensibel wie möglich zu behandeln. Soweit ich weiß, hat die Presse noch nicht Wind davon bekommen, aber ich kann nicht garantieren, dass das noch lange so bleiben wird. Wir haben versucht, die Besuche von Detectives und Spezialagenten und so weiter zu begrenzen, weil sie sie zu erschöpfen scheinen. Und die Wahrheit ist, ich denke, es gibt nicht viel, was sie ihnen erzählen könnte.«
»Hat sie gesagt, wo sie in all den Jahren gewesen ist? Oder überhaupt etwas über Neptun?«, fragte Reggie; ihr Hals wurde eng, als sie seinen Namen aussprach. Sie dachte an die Telefonanrufe, das Geräusch seines Atems in ihrem guten Ohr.
»Nicht ein Wort. Jedenfalls nichts, was einen zusammenhängenden Sinn ergibt. Und wir sind nicht in der Lage gewesen, uns viel zusammenzureimen. Wir wissen, dass sie in den letzten beiden Jahre immer wieder in dem Obdachlosenasyl gewesen ist. Sie hat niemandem von der Belegschaft oder den Bewohnern gegenüber etwas über ihre Vergangenheit enthüllt. Sie benutzte einen falschen Namen – Ivana Canard. Die Mitarbeiter baten darum, eine Überprüfung ihres Gesundheitszustands durchführen zu können, aber sie lehnte ab. Sie hatte seit einiger Zeit einen schlimmen Husten. Als sie letzte Woche im Asyl zusammenbrach, wurde sie von einem Krankenwagen hierhergebracht. Sie scheint ihren Arzt zu mögen – er ist derjenige, dem sie ihre wahre Identität verraten hat.«
Reggie lachte laut. »Lassen Sie mich raten – er ist groß, dunkelhaarig und gut aussehend.«
Carolyn schien verwirrt. »Dr. Rashana? Ja, ich schätze, das ist er«, sagte sie und ihre fahlen Wangen röteten sich. »Sie erzählte ihm, dass sie das Aphrodite-Cold-Cream-Mädchen gewesen ist.«
»Ich bin sicher, dass sie das getan hat«, sagte Reggie. Es war der Standardanmachspruch ihrer Mutter. Wussten Sie, dass ich das Aphrodite-Cold-Cream-Mädchen war? Sie konnte genau das Gesicht des armen Arztes vor sich sehen; eine obdachlose Frau, wahrscheinlich doppelt so alt wie er, die ihm erzählte, dass sie einst eine Schönheitskönigin war. Mist, er wusste wahrscheinlich nicht einmal mehr, was Aphrodite Cold Cream war. Die Firma hatte in den frühen 1980ern den Betrieb eingestellt. »Das ist immer ihr Anspruch auf Berühmtheit gewesen«, erklärte Reggie.
»Jetzt, schätze ich, hat sie einen neuen«, sagte Carolyn.
Reggie nickte. Fühlte, wie ihre Gedärme sich zu einem Schlangennest zusammenrollten.
Neptuns letztes Opfer. Die einzige, die überlebte.
Sie konnte sich nicht einmal ansatzweise den Shitstorm vorstellen, der über ihnen niedergehen würde, wenn die Medien erfuhren, dass Vera am Leben war. Sie erinnerte sich daran, wie unbarmherzig sie gewesen waren, als die Hand ihrer Mutter auf den Stufen der Polizeiwache aufgetaucht war: Sie hatten vor Moniques Wunsch campiert, Lorraine und Reggie überallhin verfolgt, wohin sie gingen, hatten ihnen schrecklich aufdringliche Fragen gestellt. Irgendeine fiese Autorin namens Martha Paquette hatte einen Tatsachenbericht über die Neptunmorde geschrieben, der Vera so ziemlich wie eine Prostituierte dastehen ließ, und man musste nicht zwischen den Zeilen lesen, um zu verstehen, dass Martha glaubte, dass sie bekommen hatte, was sie verdiente. Martha verbrachte Monate damit, ihre Familie zu verfolgen, wartete vor der Schule auf Reggie, sagte Dinge wie: »Das muss so schwer für dich sein, Regina. Wenn du jemals jemanden zum Reden brauchst, nur um dir die Dinge vom Herzen zu reden, weißt du, dass ich da bin.« Sicher. Die letzte Person, mit der Reggie reden wollte, war Martha Paquette und ihr gottverdammter Kassettenrecorder.
Carolyn räusperte sich. »Laut meiner
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