DAS 5. OPFER
erinnerten. Und da war Sid – ein großer, muskulöser Junge mit blassblonden, struppigen Haaren und einem ständig offen stehenden Mund, der ihm einen Ausdruck zufriedener Verwunderung verlieh.
Sid war in der Abschlussklasse der Brighton Falls High, fuhr einen Mustang und verkaufte Gras, doch Gerüchten zufolge verrauchte er das meiste von seinem Verdienst. Er arbeitete nach der Schule und an Wochenenden als Platzwart im Country Club. Sid trug Camouflage-Shorts und ein weißes Polohemd mit der Brighton-Falls-Country-Club-Krone. Seine ständig blutunterlaufenen Augen verdeckte eine dunkle Ray-Ban-Sonnenbrille.
Tara stand in der Nähe und aß eine Eistüte, die sie lange und langsam leckte.
»O mein Gott!«, jaulte Charlie, als er Reggie sah. Er machte einen Schritt rückwärts, sah geschockt und irgendwie erschrocken aus. »Was ist mit deinen Haaren passiert?«
Reggie fühlte sich, als wäre sie von einem Kantholz in den Magen getroffen worden. »Du hast gesagt, ich soll sie schneiden lassen«, sagte sie lahm.
»Ich sagte schneiden, nicht völlig absäbeln.«
Sid lächelte nur sein albernes, unbestimmt amüsiertes Lächeln.
»Ich denke, sie sind perfekt«, sagte Tara und leckte um den Rand ihrer Eiskremtüte. »Sie sieht aus wie eine Elfe!«
»Sie sieht aus wie ein Kerl«, murmelte Charlie und wandte sich ab.
»Komm schon, Mann«, sagte Sid. »Der androgyne Look ist total angesagt. Sieh dir Annie Lennox an.«
Reggies Magen war immer noch zu einem harten Knoten zusammengezogen. Ihr Gesicht und ihr Ohr brannten, und Tränen stachen in ihren Augenwinkeln.
Tara betrachtete sie einen Moment, nahm dann ihren Arm, drückte ihn und sagte: »Hör nicht auf diese Holzköpfe. Du siehst großartig aus.«
Reggie blickte zu Boden.
»Nett, dich zu sehen, Regina.« Charlies Onkel Bo war hinter Charlie und Sid aufgetaucht. Er band sich gerade eine Lions-Club-Schürze um und sah nervös aus.
»Wo bist du gewesen, Paps?«, fragte Sid. »Alle haben nach dir gesucht. Sind total ausgeflippt. Es gab da so eine Art Drama, weil Hot-Dog-Brötchen vermisst wurden.«
»Uns ist das Eis für die Getränkekühlung ausgegangen. Ferraro’s war geschlossen, also musste ich bis zu den Cumberland Farms rausfahren, um welches zu bekommen.«
Bo war ein schwerer Mann mit einem Gesicht wie ein Schinken – ganz fleischig, glänzend und rosa. Er hievte einen Sack mit Eis hoch, schlitzte ihn oben mit seinem Taschenmesser auf und schüttete ihn in eine Kühlbox. »Wie geht es deiner Mom, Reg?«
»Gut, schätze ich«, sagte Reggie, sich windend. Sie dachte daran, wie ihre Mutter in den frühen Morgenstunden zu ihr ins Bett gekrochen war, nach Gin riechend, und vorgegeben hatte, der Teufel zu sein. Bo schenkte ihr ein komisches kleines Lächeln, von dem ihr der Magen wehtat. Ihre Mom und Bo waren zusammen zur Highschool gegangen, waren einst sogar miteinander ausgegangen. Jetzt war Bo verheiratet und hatte einen Teenager-Sohn, der ein Kiffer war, und sie lebten in einem großen alten Haus am Fuß des Berges, bezahlt von Leuten, die Escorts und F-150er kauften.
»Du sagst ihr, dass ich Hi gesagt habe, tust du das?«, sagte Bo mit einem Zwinkern. Sein Blick wanderte an Reggie auf und ab, als würde er dort nach einem Zeichen von Vera suchen. Als er keines fand, gab er ein kleines Schnaufen von sich.
»Sicher«, sagte Reggie und dachte, bestimmt nicht, du Widerling.
Tara beugte sich vor und flüsterte Reggie zu: »Wer ist dieser Perverse? Er guckt voll auf meine Brüste. Ekelhaft. Und er lügt total, was das Eis angeht, kann ich dir sagen. Er hat wahrscheinlich irgendeine Pfadfinderin besprungen oder so was.«
Bo blickte zu ihnen hinüber, und Reggie dachte einen Augenblick lang, er müsste es gehört haben. Tara erwiderte seinen Blick und nahm einen großen, Gehirnfrost erzeugenden Biss von ihrer Eiskremtüte, leckte sich dann langsam und zufrieden die Lippen, ohne jemals den Augenkontakt abzubrechen. Sie war krank. Eindeutig krank.
»Ich schätze, ich gehe besser mal und löse das Rätsel der vermissten Brötchen«, sagte Bo abrupt und riss ruckartig seinen Blick von Tara los. Er sah verschwitzt und abgelenkt aus, als er zum Grill hinüberging.
»CHARLIE IST EIN ARSCHLOCH«, sagte Tara später in Reggies Haus. Sie waren im Wohnzimmer, guckten MTV und teilten sich eine Tüte Maischips. »Du solltest ihm kein Wort glauben. Dieser Haarschnitt passt sehr gut zu dir.«
»Hm«, sagte Reggie.
»In zehn Minuten kommen die Nachrichten und wir
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