Das 6. Buch des Blutes - 6
Wünsche.«
Selbst wenn sie Kavanaghs gute Wünsche an Reuben und Sonja hätte weitergeben wollen, wäre sie nicht dazu imstande gewesen. Hermione ging nicht ans Telefon, die anderen auch nicht. Sie konnte lediglich eine Nachricht auf Reubens Anrufbeantworter hinterlassen.
Die Beschwingtheit, die sie heute früh verspürt hatte, entwickelte sich zu einer seltsamen Verträumtheit, als der Nachmittag in den Abend überging. Sie aß noch einmal, aber der Festschmaus änderte nichts daran, daß der entrückte Trancezustand immer stärker wurde. Sie fühlte sich recht wohl; jenes unbestimmte Gefühl der Unverwundbarkeit, das über sie gekommen war, war immer noch vorhanden. Doch während der Tag verging, stellte sie immer wieder fest, daß sie auf der Schwelle eines Zimmers stand und nicht wußte, warum sie hierher gekommen war; oder daß sie verfolgte, wie draußen auf der Straße das Licht schwand, und nicht recht wußte, ob sie Beobachtende oder Beobachtete war. Aber sie war glücklich mit sich, ebenso wie die Fliegen glücklich waren. Sie summten ihre Aufwartung, obwohl sich die Dunkelheit niedersenkte.
Gegen sieben hörte sie draußen ein Auto vorfahren, dann läutete die Glocke. Sie ging zur Wohnungstür, brachte aber nicht die Neugier auf, sie zu öffnen, in den Flur hinauszutreten und Besucher einzulassen. Höchstwahrscheinlich würde es wieder Hermione sein, und sie hatte kein Verlangen nach düsteren Gesprächen. Tatsächlich wollte sie überhaupt keine Gesellschaft, nur die der Fliegen.
Die Besucher blieben beharrlich an der Klingel; je beharrlicher sie wurden, desto entschlossener wurde Elaine, nicht auf-zumachen. Sie rutschte an der Mauer neben der Tür hinab und lauschte der gedämpften Unterhaltung, die jetzt auf den Stufen einsetzte. Es war nicht Hermione; niemand, den sie kannte.
Dann drückten sie systematisch die Klingeln aller Wohnungen über ihr, bis Mr. Prudhoe von der obersten Wohnung, Selbstgespräche führend, herunterkam und ihnen die Tür aufmachte. Von der anschließenden Unterhaltung verstand sie nur soviel, daß ihr die Dringlichkeit der Mission der Besucher bewußt wurde, aber ihr wirrer Verstand hatte nicht die Ausdauer, sich mit den Einzelheiten aufzuhalten. Sie brachten Prudhoe dazu, daß er sie in den Flur ließ. Sie kamen zu ihrer Wohnungstür und klopften an und riefen ihren Namen. Elaine antwortete nicht. Sie klopften nochmals und wechselten frustrierte Bemerkungen. Elaine fragte sich, ob sie sie in der Dunkelheit lächeln hören konnten. Schließlich überließen sie sienach einer weiteren Unterhaltung mit Prudhoe - sich selbst.
Sie wußte nicht, wie lange sie auf den Fersen neben der Tür hockte, aber als sie wieder aufstand, waren ihre Beine eingeschlafen, und sie war hungrig. Sie aß gierig und verzehrte mehr oder weniger den ganzen Rest der Einkäufe von heute morgen. Die Fliegen schienen sich in den vergangenen Stunden vermehrt zu haben; sie krabbelten auf dem Tisch herum und kosteten von ihren Lebensmitteln. Sie ließ sie essen. Auch sie mußten ihr Leben leben.
Schließlich beschloß sie, an die frische Luft zu gehen. Sie hatte die Wohnung kaum verlassen, da stand der wachsame Prudhoe oben an der Treppe und rief zu ihr herunter.
»Miss Rider. Einen Moment bitte. Ich habe eine Nachricht für Sie.«
Sie überlegte, ob sie ihm die Tür vor der Nase zuschlagen sollte, wußte aber, daß er keine Ruhe geben würde, bevor er ihr sein Kommunique überbracht hatte. Er eilte die Treppe herunter – eine Kassandra in schäbigen Pantoffeln.
»Es waren Polizisten hier«, verkündete er, noch ehe er die Treppe ganz heruntergekommen war. »Sie haben nach Ihnen gesucht.«
»Oh«, sagte sie. »Haben sie gesagt, was sie wollten?«
»Mit Ihnen reden. Dringend. Zwei Ihrer Freunde…«
»Was ist mit ihnen?«
»Sie sind gestorben«, sagte er. »Heute nachmittag. Sie haben eine Art Krankheit.«
Er hatte einen Zettel in der Hand. Den überreichte er ihr jetzt, wobei er ihn einen Sekundenbruchteil, bevor sie ihn berührte, losließ.
»Sie sollen diese Nummer anrufen«, sagte er. »Sie sollen so schnell wie möglich mit ihnen Verbindung aufnehmen.«
Nachdem er seine Nachricht übermittelt hatte, ging er bereits wieder die Treppe hinauf.
Elaine studierte den Zettel mit den hingekritzelten Zahlen.
Bis sie die sieben Ziffern gelesen hatte, war Prudhoe verschwunden.
Sie ging wieder in die Wohnung. Aus irgendwelchen Gründen dachte sie nicht an Reuben und Sonja – die sie offensichtlich
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