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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Geschichte des Todes; das behaupteten die Dichter. Warum sollte es umgekehrt nicht auch zutreffen?
    Sie konnten nicht zu ihm gehen. Er sagte ihr, daß auch dort die Polizei sein würde, weil sie von der Romanze zwischen ihnen beiden wissen mußte. Und selbstverständlich konnten sie nicht in ihre Wohnung zurückkehren. Sie suchten sich ein kleines Hotel in der Gegend und nahmen dort ein Zimmer. Noch in dem engen Fahrstuhl nahm er sich die Freiheit, ihr Haar zu streicheln, und als er sah, daß sie willig war, legte er ihr eine Hand auf die Brust.
    Das Zimmer war karg möbliert, aber die bunten Lichter eines Weihnachtsbaums unten auf der Straße verliehen ihm einen gewissen Charme. Ihr Liebhaber ließ sie nicht einen Moment aus den Augen, als rechnete er noch jetzt damit, daß sie sich beim geringsten Fehler in seinem Verhalten umdrehen und weglaufen würde. Er hätte sich keine Sorgen machen müssen, seine Behandlung bot keinen Anlaß zur Beschwerde. Seine Küsse waren beharrlich, aber nicht überwältigend; wie er sie auszog, war – abgesehen vom Herumfummeln (ein netter menschlicher Zug an ihm, fand sie) – ein Musterbeispiel an Geschick und lieber Ernsthaftigkeit.
    Sie war überrascht, daß er nichts von der Narbe wußte, weil sie zu der Überzeugung gelangt war, ihr intimes Verhältnis hätte schon auf dem Operationstisch angefangen, als sie zweimal in seine Arme gesunken und zweimal von den brutalen Chirurgen wieder herausgerissen worden war. Aber da er nicht sentimental war, hatte er ihre erste Begegnung vielleicht vergessen. Was auch immer der Grund sein mochte, er schien aufgebracht zu sein, als er ihr das Kleid ausgezogen hatte, und es folgte ein banger Augenblick, als sie dachte, er würde sie zurückweisen. Doch der Augenblick verstrich, und er führte die Hand an ihren Unterleib und strich mit den Fingern über die Narbe. »Wunderschön«, sagte er.
    Sie war glücklich. »Ich wäre fast unter der Narkose gestorben«, sagte sie ihm.
    »Das wäre eine Verschwendung gewesen«, sagte er, ließ seine Hände ihren Körper hinaufgleiten und spielte mit ihren Brüsten. Das schien ihn zu erregen, denn als er wieder sprach, klang seine Stimme belegt. »Was haben sie dir gesagt?« fragte er und fuhr mit beiden Händen den weichen Kanal über dem Schlüsselbein entlang. Sie war seit Monaten nicht mehr angefaßt worden, abgesehen von desinfizierten Händen; seine Zärtlichkeit brachte sie zum Erbeben. Sie war so in der Lust versunken, daß sie seine Frage nicht beantwortete. Er fragte noch einmal, während er zwischen ihre Beine glitt.
    »Was haben sie dir gesagt?«
    Durch den Nebel der Vorfreude hindurch sagte sie: »Sie haben mir eine Telefonnummer hinterlassen. Damit sie mir helfen können…«
    »Aber du wolltest keine Hilfe?«
    »Nein«, hauchte sie. »Wozu auch ?«
    Sie sah sein Lächeln andeutungsweise, obwohl sie die Augen lieber fest zugemacht hätte. Sein Äußeres weckte keinerlei Leidenschaft in ihr, tatsächlich fand sie vieles an seiner Verkleidung (zum Beispiel diese absurde Krawatte) lächerlich. Aber wenn sie die Augen geschlossen hatte, konnte sie solche Nebensächlichkeiten vergessen. Sie konnte die Kapuze abstreifen und ihn sich pur vorstellen. Als sie so an ihn dachte, drehte ihr Verstand Pirouetten.
    Er nahm die Hände von ihr. Sie machte die Augen auf. Er nestelte an seinem Gürtel herum. Auf einmal schrie jemand draußen auf der Straße. Er drehte ruckartig den Kopf zum Fenster, sein Körper verkrampfte sich. Seine plötzliche Sorge überraschte sie. »Alles in Ordnung«, sagte sie.
    Er beugte sich nach vorne und legte ihr die Hand an den Hals.
    »Sei still«, befahl er .
    Sie sah ihm ins Gesicht. Er hatte angefangen zu schwitzen.
    Das Gespräch auf der Straße dauerte noch ein paar Minuten. Es waren einfach zwei nächtliche Spieler, die Abschied nahmen.
    Jetzt wurde ihm sein Irrtum klar.
    »Ich dachte, ich hätte gehört…«
    »Was?«
    »… wie sie meinen Namen riefen.«
    »Wer sollte das tun?« fragte sie ihn zärtlich. »Niemand weiß, daß wir hier sind.«
    Er sah vom Fenster weg. Jegliche Entschlossenheit war mit einem Mal aus seinem Gesicht gewichen; nach dem Augenblick der Angst waren seine Züge schlaff geworden. Er sah beinahe dumm aus.
    »Sie waren nahe«, sagte er. »Aber sie haben mich nicht gefunden.«
    »Nahe?«
    »Bei dir.« Er legte den Kopf auf ihre Brust. »Sehr nahe«, murmelte er. Sie konnte ihren Pulsschlag in ihrem Kopf hören.
    »Aber ich bin flink«, sagte er, »und

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