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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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nicht mehr wiedersehen würde –, sondern an den Seemann Maybury, der den Tod gesehen hatte und ihm entkommen war, nur damit dieser ihm folgen konnte wie ein treuer Hund, der nur auf den richtigen Augenblick wartete, ihn anzuspringen und ihm das Gesicht zu lecken. Sie saß neben dem Telefon und betrachtete die Nummer auf dem Zettel und die Finger, die den Zettel hielten, und die Hände, an denen die Finger saßen. War die Berührung, die so unschuldig an ihren Fingerspitzen wartete, jetzt tödlich? Waren die Polizisten gekommen, um ihr das zu sagen? Daß ihre Freunde durch ihre Vermittlung gestorben waren? Und wenn ja, wie viele andere hatte sie seit dem Tage berührt und angehaucht, da sie ihre Pestilenzausbildung in der Krypta erhalten hatte? Auf der Straße, im Bus, im Supermarkt; bei der Arbeit, in der Freizeit. Sie dachte an Bernice, wie sie auf dem Boden der Toilette lag, und an Hermione, wie sie die Stelle rieb, wo sie sie geküßt hatte, als hätte sie ge-wußt, daß irgendeine Plage auf sie übertragen worden war.
    Und plötzlich wußte sie, wußte bis in Mark und Bein, daß ihre Verfolger recht hatten mit ihrem Argwohn und daß sie diese ganzen verträumten Tage über ein tödliches Kind genährt hatte.
    Daher der Hunger; daher die strahlende Erfüllung, die sie empfand.
    Sie saß im Halbdunkel, legte den Zettel weg und versuchte, den genauen Sitz der Pest auszumachen. War sie an ihren Fingerspitzen, im Unterleib, in den Augen? Nirgends, und doch überall. Ihre erste Vermutung war falsch gewesen. Die Krankheit war überhaupt kein Kind: Sie hatte sie nicht in einer bestimmten Zelle. Sie war überall. Sie und die Krankheit waren ein und dasselbe. Und weil das so war, konnte man die befallenen Teile nicht einfach herausschneiden, wie sie die Tumore und alles, was von ihnen verschlungen worden war, herausgeschnitten hatten. Nicht, daß sie deswegen ihrer Aufmerksamkeit entgehen würde. Schließlich waren sie zu ihr gekommen – oder etwa nicht? –, um sie wieder in den Gewahrsam steriler Zimmer zu bringen, um ihr ihre Ansichten und ihre Würde zu nehmen, um sie zum Objekt ihrer lieblosen Untersuchungen zu machen. Die Vorstellung stieß sie ab; sie würde lieber sterben, so wie die Frau mit dem kastanienfarbenen Haar in der Krypta gestorben war, unter Schmerzen gekrümmt, als sich ihnen noch einmal zu unterwerfen. Sie zerriß den Zettel und ließ die Schnipsel zu Boden fallen.
    Es war ohnehin zu spät für Lösungen. Die Umzugsmänner hatten die Tür aufgemacht und auf der anderen Seite den Tod vorgefunden, der nur darauf wartete, ans Tageslicht zu gelangen. Sie war sein Vermittler, und er hatte ihr – in seiner Weisheit – Immunität gewährt. Er hatte ihr Kraft und eine traumartige Verzückung gegeben. Er hatte ihr die Angst genommen. Sie hatte als Gegenleistung sein Wort verbreitet, und diese Dienste ließen sich nicht mehr rückgängig machen; nie mehr. Die Dutzende, vielleicht Hunderte Menschen, die sie in den vergangenen paar Tagen angesteckt hatte, waren zu ihren Familien und Freunden zurückgekehrt, an ihre Arbeitsplätze und Erholungsstätten, und verbreiteten das Wort noch weiter.
    Sie hatten sein tödliches Versprechen an ihre Kinder weitergegeben, als sie sie zu Bett brachten, und beim Liebesakt an ihre Lebensgefährten. Priester hatten es zweifellos bei der Kommunion weitergegeben; Ladenbesitzer beim Wechseln von Fünfpfundnoten.
    Während sie darüber nachdachte – über die Seuche, die sich wie ein Lauffeuer ausbreitete –, läutete es wieder. Sie wollten wieder zu ihr. Und sie klingelten, wie zuvor, in allen anderen Wohnungen im Haus. Sie konnte hören, wie Prudhoe herunterkam. Dieses Mal wußte er, daß sie da war. Er würde es ihnen sagen. Sie würden an die Tür pochen, und wenn sie nicht aufmachte…
    Als Prudhoe die Haustür öffnete, machte sie die Hintertür auf. Als sie auf den Hof hinausging, hörte sie Stimmen an der Wohnungstür, dann ihr Klopfen und ihre Forderungen. Sie entriegelte die Gartentür und floh in die Dunkelheit der Gasse.
    Als sie die Tür aufbrachen, war sie bereits außer Hörweite.
    Sie wäre am liebsten zur Kirche Allerheiligen zurückgekehrt, aber ihr war klar, daß ein solches Vorgehen eine Festnahme herausforderte. Sie würden davon ausgehen, daß sie diesen Weg einschlug, weil sie darauf vertrauten, daß sie zum Ort des Ursprungs zurückkehrte. Aber sie wollte das Antlitz des Todes noch einmal sehen; jetzt mehr denn je. Um mit ihm zu sprechen. Sich über

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