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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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bewegen vermochte, und sah zu, wie Kavanagh die Rituale seines Verbrechens ausführte. Er beugte sich über die Leiche und flüsterte ihr etwas ins Ohr, während er sie anders auf das zerwühlte Laken bettete. Dann knöpfte er den Hosenschlitz auf und entblößte seinen Schwanz, jenes Glied, dessen Erektion die aufrichtigste Form von Schmeichelei ist. Was folgte, war so ungraziös, daß es komisch wirkte, ebenso wie ihr Körper komisch aussah mit seinen Narben und den Stellen, wo das Alter sich an ihm zu schaffen gemacht hatte. Distanziert beobachtete Elaine seine plumpen Annäherungsversuche. Seine Gesäßbacken waren blaß und, wo die Unterhose sich abgezeichnet hatte, gemustert. Er erinnerte sie an ein mechanisches Spielzeug.
    Er küßte sie, während er sich abrackerte, und schluckte die Pestilenz mit ihrem Speichel; mit den Händen rieb er die ansteckenden Zellen von ihrem Körper ab. Natürlich wußte er nichts von alledem. Er hatte keine Ahnung, welche Verderbnis er in den Armen hielt und mit jedem uninspirierten Stoß in sich aufnahm.
    Schließlich war er fertig. Kein Stöhnen, kein Aufschrei. Er hörte einfach mit seinen Uhrwerkbewegungen auf und stieg von ihr herunter, wischte sich mit einem Zipfel des Lakens ab und knöpfte die Hose wieder zu.
    Führer riefen nach ihr. Sie mußte Reisen zurücklegen und konnte sich auf manches Wiedersehen freuen. Aber sie wollte nicht gehen, jedenfalls jetzt noch nicht. Sie dirigierte ihre Seele an einen anderen Beobachtungspunkt, wo sie Kavanaghs Gesicht besser sehen konnte. Ihre Sehkraft, oder welche Sinne ihr dieser neue Zustand auch immer gewährte, erkannte deutlich, wie seine Züge auf einen Untergrund von Muskeln aufgemalt waren und wie unter dieser komplexen Schicht die Knochen leuchteten. Ah, die Knochen. Er war selbstverständlich nicht der Tod; und doch war er es. Er hatte das Gesicht, oder nicht?
    Und eines Tages, mit dem Segen der Verwesung, würde er es zeigen. Welch ein Jammer, daß zwischen ihm und dem bloßen Auge diese Schicht Fleisch war.
    Komm mit, beharrten die Stimmen. Sie wußte, sie konnte sich ihnen nicht mehr lange widersetzen. Es waren sogar welche darunter, die sie zu kennen glaubte. Einen Augenblick, flehte sie. Nur noch einen Augenblick.
    Kavanagh hatte seine Arbeit am Schauplatz des Mordes erledigt. Er überprüfte sein Aussehen im Badezimmerspiegel, dann ging er zur Tür. Sie ging mit ihm, weil die völlige Banali-tät seines Gesichtsausdrucks sie faszinierte. Er schlüpfte hinaus auf den stillen Treppenabsatz und dann die Stufen hinunter, wo er einen Augenblick wartete, bis der Nachtportier abgelenkt war, bevor er auf die Straße hinausging und in die Freiheit.
    Hellte die Dämmerung den Himmel auf oder die Beleuchtung? Vielleicht hatte sie ihn länger, als sie gedacht hatte, aus der Ecke des Zimmers beobachtet – vielleicht vergingen in dem Zustand, den sie jetzt erreicht hatte, Stunden wie Augenblicke. Erst ganz zuletzt wurde sie für ihre Ausdauer belohnt, als Kavanaghs Gesicht einen Ausdruck annahm, den sie kannte. Hunger! Der Mann war hungrig. Er würde nicht an der Seuche sterben, ebensowenig wie sie. Ihre Präsenz leuchtete in ihm – verlieh seiner Haut einen neuen Glanz und seinem Bauch eine neue Ausdauer.
    Er war als kleiner Mörder zu ihr gekommen und ging von ihr als der leibhaftige Tod. Sie lachte, als sie erkannte, daß sie unwissentlich eine sich selbst erfüllende Prophezeiung in die Wege geleitet hatte. Einen Augenblick schritt er langsamer aus, als hätte er sie gehört. Aber nein; er lauschte nur der Trommel in seinem Ohr, die schneller und schneller schlug und, während er weiterging, mit jedem Schritt neue und tödliche Lebenskraft verlangte.

    Locke sah zu den Bäumen auf. Der Wind bewegte sich in ihnen, und der Aufruhr ihrer vollen Zweige hörte sich an wie der Fluß bei Hochwasser. Eine Nachahmung von vielen. Als er zum ersten Mal im Dschungel gewesen war, hatte ihn die ungeheure Vielfalt von Tieren und Blüten, die unbändige Parade des Lebens hier, mit Ehrfurcht erfüllt. Aber mittlerweile wußte er es besser. Die überreiche Vielfältigkeit war Maske-rade; der Dschungel tat nur so, als wäre er ein urtümlicher Garten. Das war er nicht. Wo der ungebildete Passant lediglich ein brillantes Schauspiel natürlichen Überflusses sah, erkannte Locke inzwischen das Wirken einer subtilen Verschwörung, in der alle Dinge andere widerspiegelten. Die Bäume den Fluß, eine Blüte einen Vogel. Im Flügel eines Schmetterlings

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