Das 6. Buch des Blutes - 6
verkaufen sie in Manhattan weiter. Heutzutage möchte jeder etwas von einem ausgestorbenen Stamm haben. Memento
mori.«
»Ausgestorben?« fragte Locke. Das Wort hatte einen verführerischen Klang, für ihn hörte es sich an wie das Leben.
»Aber sicher«, sagte Tetelman. »Sie sind so gut wie weg.
Wenn Sie sie nicht ausrotten, werden sie es selber tun.«
»Selbstmord?« fragte Locke.
»Auf ihre Weise. Sie verlieren einfach die Lust. Ich habe das ein halbes dutzendmal mit angesehen. Ein Stamm verliert sein Land und damit seinen Lebenswillen. Sie kümmern sich einfach nicht mehr um sich. Die Frauen werden nicht mehr schwanger, die jungen Männer fangen an zu trinken, die alten Männer hungern sich zu Tode. In ein oder zwei Jahren ist es, als hätten sie nie existiert.«
Locke schüttete den Rest seines Drinks hinunter und salutierte dabei insgeheim der tödlichen Weisheit dieser Menschen.
Sie wußten, wann sie sterben mußten, und das konnte man von vielen, die er getroffen hatte, nicht sagen. Der Gedanke an ihren Todeswunsch nahm ihm die letzten Reste seines Schuldgefühls. Was war das Gewehr in seiner Hand, wenn nicht ein Instrument der Evolution?
Am vierten Tag ihrer Ankunft im Handelsposten ließ Stumpfs Fieber nach, sehr zur Enttäuschung von Dancy. »Das Schlimmste ist überstanden«, verkündete er. »Gebt ihm noch zwei Tage Zeit, dann könnt ihr euch wieder an die Arbeit machen. «
»Was haben Sie für Pläne?« wollte Tetelman wissen.
Locke saß auf der Veranda und sah in den Regen. Sturzbäche ergossen sich aus Wolken, die so tief hingen, daß sie die Baumwipfel streiften. Dann hörte die Sturzflut ebenso schnell wieder auf, wie sie angefangen hatte, als wäre ein Hahn zugedreht worden. Die Sonne kam hervor, der frischgewaschene Dschungel dampfte und wuchs und gedieh erneut. »Ich weiß nicht, was wir tun werden«, sagte Locke. »Vielleicht holen wir uns Hilfe und gehen noch einmal hin.«
»Es gibt Mittel und Wege«, sagte Tetelman.
Cherrick, der neben der Tür saß, um das bißchen Wind mitzubekommen, das vielleicht wehte, nahm sein Glas, das er in den vergangenen Tagen kaum aus der Hand gegeben hatte, und füllte es wieder nach.
»Keine Gewehre mehr«, sagte er.
Er hatte das Gewehr seit ihrer Ankunft im Posten nicht mehr angerührt. Tatsächlich hielt er sich von allem fern, abgesehen von der Flasche und seinem Bett. Seine Haut schien unablässig zu kribbeln und zu jucken.
»Gewehre sind nicht nötig«, murmelte Tetelman. Die Bemerkung hing wie ein unerfülltes Versprechen in der Luft.
»Wir können sie ohne Gewehre loswerden?« fragte Locke.
»Wenn Sie damit meinen, wir sollen warten, bis sie von alleine aussterben – soviel Geduld habe ich nicht.«
»Nein«, sagte Tetelman. »Wir können schneller sein.«
»Wie?«
Tetelman sah den Mann träge an. »Sie sind mein Lebensunterhalt«, sagte er, »jedenfalls ein Teil davon. Sie verlangen von mir, daß ich Ihnen dabei helfe, mich zu ruinieren.«
Er sieht nicht nur wie eine alte Hure aus, dachte Locke, er denkt auch wie eine. »Was ist es wert? Ihr Wissen?« fragte er.
»Einen Anteil von allem, was Sie auf Ihrem Land finden«, antwortete Tetelman.
Locke nickte. »Was haben wir zu verlieren? Cherrick? Bist du einverstanden, ihm einen Anteil abzugeben?« Cherrick drückte seine Zustimmung mit einem Achselzucken aus. »Also gut«, sagte Locke. »Reden Sie.«
»Sie brauchen Medizin«, erklärte Tetelman, »weil sie so anfällig für unsere Krankheiten sind. Eine anständige Seuche könnte sie praktisch über Nacht ausrotten.«
Locke dachte darüber nach, sah aber Tetelman nicht an.
»Auf einen Streich«, fuhr Tetelman fort. »Sie haben praktisch keine Abwehrstoffe gegen bestimmte Bakterien. Weil sie nie Widerstandskräfte bilden mußten. Tripper. Windpocken.
Sogar Masern.«
»Wie?« fragte Locke.
Wieder Schweigen. Am Ende der Veranda, wo die Zivilisation aufhörte, drängte sich der Dschungel der Sonne entgegen.
In der schwülen Hitze erblühten Pflanzen und verfaulten und erblühten erneut.
»Ich fragte, wie « , sagte Locke.
»Decken«, antwortete Tetelman, »Decken von Toten.«
Kurz vor Morgendämmerung in der Nacht nach Stumpfs Genesung erwachte Cherrick plötzlich, weil ihn Alpträume aus dem Schlaf rissen. Draußen war es pechschwarz. Weder Mond noch Sterne milderten die Tiefe der Nacht. Aber seine innere Uhr, die durch sein Leben als Söldner beeindruckend genau lief, sagte ihm, daß das erste Licht nicht mehr fern war,
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