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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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aus, als würde er zusammenbrechen, und Locke wollte ihn stützen. Als seine Hände Kontakt mit Cherricks Schultern herstellten, platzte die Haut unter dem Hemd auf, und Lockes Hände waren auf der Stelle scharlachrot gefärbt. Er zog sie voll Ekel zurück.
    Cherrick fiel auf die Knie, die ihrerseits zu neuen Wunden wurden. Er sah hinab, wie Hemd und Hose sich dunkel färbten.
    »Was geschieht mit mir?« schluchzte er.
    Dancy kam auf ihn zu. »Lassen Sie mich helfen.«
    »Nein! Faßt mich nicht an!« flehte Cherrick, aber Dancy war nicht bereit, sich seine Pflege verweigern zu lassen.
    »Schon gut«, sagte er auf seine beste Krankenzimmerart.
    Aber es war nicht gut. Dancys Griff, der den Mann nur von den blutenden Knien heben sollte, öffnete überall, wo er ansetzte, neue Wunden. Dancy spürte das Blut unter seinen Händen strömen, spürte auch, wie das Fleisch von den Knochen glitt.
    Die Empfindung übertraf sogar seinen Sinn für Qualen. Er gab wie Locke den verlorenen Mann auf.
    »Er verfault«, murmelte er.
    Cherricks Körper war jetzt an einem Dutzend oder mehr Stellen aufgeplatzt. Er versuchte aufzustehen, taumelte halb auf die Füße und klappte wieder zusammen, und seine Haut brach erneut auf, wenn er Mauer, Stuhl oder Boden berührte. Es gab keine Hilfe für ihn. Die anderen konnten nur wie Zuschauer bei einer Hinrichtung danebenstehen und auf die letzten Zukkungen warten. Selbst Stumpf war von seinem Bett aufgestanden, um nachzusehen, was das Brüllen zu bedeuten hatte. Er lehnte am Türrahmen, und sein von der Krankheit ausgezehrtes Gesicht drückte nichts als Ungläubigkeit aus.
    Nach einer weiteren Minute besiegte der Blutverlust Cherrick. Er kippte vornüber und streckte sich, das Gesicht nach unten, auf dem Boden aus. Dancy ging wieder zu ihm und kauerte sich neben seinem Kopf auf die Fersen.
    »Ist er tot?« fragte Locke.
    »Fast«, antwortete Dancy.
    »Verfault«, sagte Tetelman, als könnte das Wort die Ungeheuerlichkeit erklären, die sie gerade mit angesehen hatten. Er hatte ein großes, grob geschnitztes Kruzifix in der Hand. Sieht nach indianischem Kunsthandwerk aus, dachte Locke. Der an-genagelte Messias war schlitzäugig und schamlos nackt. Er lächelte trotz Nägeln und Dornenkrone.
    Dancy berührte Cherricks Körper, was Blut fließen ließ, drehte den Mann herum und beugte sich über Cherricks zuckendes Gesicht. Die Lippen des sterbenden Mannes bewegten sich fast unmerklich.
    »Was sagen Sie?« wollte Dancy wissen. Er beugte sich noch näher, damit er die Worte des Mannes verstehen konnte. Blutiger Speichel kam aus Cherricks Mund, aber kein Laut.
    Locke trat dazu und stieß Dancy weg. Fliegen schwirrten bereits um Cherricks Gesicht. Locke hielt den stiernackigen Kopf so, daß Cherrick ihn sehen konnte. »Hörst du mich?«
    fragte er.
    Der Körper brummte.
    »Kennst du mich?«
    Wieder ein Brummen.
    »Möchtest du mir deinen Anteil an dem Land abtreten?«
    Diesmal war das Brummen leiser, beinahe ein Seufzen.
    »Es sind Zeugen hier«, sagte Locke. »Sag einfach ja. Sie werden dich hören. Sag einfach ja.«
    Der Körper gab sich die beste Mühe. Er machte den Mund ein wenig weiter auf.
    »Dancy…« sagte Locke. »Haben Sie gehört, was er gesagt hat?«
    Dancy konnte sein Entsetzen über Lockes Beharrlichkeit nicht verbergen, aber er nickte.
    »Sie sind Zeuge.«
    »Wenn es sein muß.«
    Tief in seinem Körperinneren spürte Cherrick, wie sich die Fischgräte, die er im Dorf verschluckt hatte, ein letztes Mal drehte und ihn auslöschte.
    »Hat er ja gesagt, Dancy?« fragte Tetelman.
    Dancy spürte die körperliche Nähe des groben Klotzes, der neben ihm kniete. Er wußte nicht, was der tote Mann gesagt hatte, aber was spielte das schon für eine Rolle? Locke würde das Land so oder so bekommen, oder?
    »Er hat ja gesagt.«
    Locke stand auf und machte sich auf die Suche nach einer frischen Tasse Kaffee.
    Dancy legte, ohne nachzudenken, die Finger auf Cherricks Lider, um den leeren Blick zu verdecken. Unter dieser leichten Berührung brachen die Lider auf. Blut färbte die Tränen, die dort, wo Cherricks Augenlicht einst war, hervorgequollen waren.
    Sie hatten ihn gegen Abend begraben. Obwohl der Leichnam während der Nachmittagshitze im kühlsten Teil des Ladens gelegen hatte, zwischen den getrockneten Lebensmitteln, war er bereits in Verwesung übergegangen, als sie ihn zur Beerdigung in einen Sack einnähten.
    In der darauffolgenden Nacht war Stumpf zu Locke gekommen und hatte ihm das letzte

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