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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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ihn gesehen…«
    »Wen?«
    »Den Ältesten. Aus dem Dorf. Er war hier.«
    »Lächerlich.«
    »Er war hier, verdammt«, antwortete Stumpf. »Er stand dort, wo du jetzt stehst. Sah mich durch das Glas an.«
    »Du hast zuviel getrunken.«
    »Es ist mit Cherrick passiert, und jetzt passiert es mit mir.
    Sie machen es uns unmöglich zu leben…«
    Locke schnaubte. »Ich habe keine Probleme«, sagte er.
    »Sie werden dich nicht entkommen lassen«, sagte Stumpf.
    »Keiner von uns wird entkommen. Wenn wir keine Wiedergutmachung leisten.«
    »Du mußt das Zimmer räumen«, sagte Locke, der nicht bereit war, sich noch mehr von diesem Geschwätz anzuhören.
    »Man hat mir gesagt, daß du morgen rausmußt.«
    »Nein«, sagte Stumpf. »Ich kann nicht gehen. Ich kann nicht gehen.«
    »Du brauchst keine Angst zu haben.«
    »Der Staub«, sagte der Deutsche. »Der Staub in der Luft. Er wird mich zerschneiden. Ich habe ein Körnchen ins Auge bekommen – nur ein winziges Körnchen – , und danach hat mein Auge geblutet, als wollte es nicht mehr aufhören. Ich kann mich kaum hinlegen, das Laken ist wie ein Nagelbrett. Meine Fußsohlen fühlen sich an, als würden sie platzen. Du mußt mir helfen.«
    »Wie?« sagte Locke.
    »Bezahl für das Zimmer. Bezahl sie, damit ich bleiben kann, bis du einen Spezialisten aus São Luis geholt hast. Und dann geh in das Dorf zurück, Locke. Geh zurück und sag es ihnen.
    Ich will das Land nicht. Sag ihnen, daß es mir nicht mehr gehört.«
    »Ich werde zurückkehren«, antwortete Locke, »aber wann ich es will.«
    »Du mußt schnell gehen«, sagte Stumpf. »Sag ihnen, sie sollen mich in Ruhe lassen.« Plötzlich veränderte sich der Ausdruck des teilweise bandagierten Gesichts, und Stumpf betrachtete an Locke vorbei ein Schauspiel weiter hinten im Flur. Aus seinem vor Angst offenen Mund kam ein einziges Wort:
    »Bitte.«
    Locke drehte sich, vom Gesichtsausdruck des Mannes verwirrt, um. Der Flur war leer, abgesehen von den großen Faltern, die die Lampe belagerten. »Hier ist nichts«, sagte er und wandte sich wieder zur Tür von Stumpfs Zimmer. Auf dem Drahtgitterglas waren deutlich zwei Abdrücke blutiger Hände zu sehen.
    »Er ist hier«, sagte der Deutsche, der gebannt auf das Wunder des blutenden Glases starrte. Locke mußte nicht fragen, wer. Er hob die Hände und berührte die Male. Die noch feuchten Abdrücke waren auf seiner Seite der Scheibe, nicht auf der von Stumpf.
    »Mein Gott«, hauchte er. Wie konnte jemand zwischen ihn und die Tür geschlichen sein, um die Abdrücke zu machen, und dann wieder weg, und das alles in dem Augenblick, in dem er sich umgedreht hatte? Das widersprach jeglicher Vernunft. Er sah wieder in den Flur. Immer noch keine Besucher. Nur die Glühbirne – die sanft schwang, als wäre gerade ein Lüftchen daran vorbeigestrichen – und die flüsternden Flügel der Falter.
    »Was geht hier vor?« hauchte Locke.
    Stumpf, den die Abdrücke in Trance versetzt zu haben schienen, berührte sanft mit den Fingerspitzen das Glas. Beim Kontakt erblühte Blut an seinen Fingerspitzen, Rinnsale flossen an der Scheibe hinab. Er nahm die Finger nicht weg, sondern sah Locke voller Verzweiflung mit seinem einen Auge an.
    »Siehst du?« sagte er leise.
    »Worauf willst du hinaus?« fragte Locke mit gleichermaßen gedämpfter Stimme. »Das ist eine Art Trick.«
    »Nein.«
    »Du hast Cherricks Krankheit nicht. Du kannst sie nicht haben. Du hast diese Leute nicht angefaßt. Wir waren uns einig, verdammt«, sagte er hitziger. »Cherrick hat sie berührt, wir nicht .«
    Stumpf sah Locke an, und sein Gesicht drückte so etwas wie Mitleid aus.
    »Wir haben uns geirrt«, sagte er leise. Seine Finger, die er von der Scheibe genommen hatte, bluteten weiter, es rann über die Handrücken und an den Unterarmen hinab. »Das hier ist etwas, dem du keinen Gehorsam einprügeln kannst, Locke. Es ist nicht mehr in unserer Hand.« Er hob die blutenden Finger und lächelte über sein Wortspiel. »Siehst du?« sagte er.
    Die plötzliche fatalistische Ruhe des Deutschen machte Locke angst. Er griff nach der Türklinke und zerrte daran. Das Zimmer war verschlossen. Der Schlüssel war drinnen, weil Stumpf dafür bezahlt hatte, daß er dort war.
    »Bleib draußen«, sagte Stumpf. »Bleib weg von mir.«
    Sein Lächeln war verschwunden. Locke stemmte die Schulter gegen die Tür.
    »Bleib draußen, hab’ ich gesagt«, schrie Stumpf mit schriller Stimme.
    Er wich von der Tür zurück, als Locke einen zweiten

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