Das achte Opfer
Uhr
Kommissar Hellmer war noch kurz in einer Bar in der Nähe seiner Wohnung gewesen, hatte drei Bier und drei Korn getrunken und dabei versucht, zu ergründen, was den Täter bewogen haben mochte, Dr. Matthäus auf solch grausame Weise zu ermorden. Er versuchte, sich in die Psyche des Mörders hineinzuversetzen, herauszufinden, was es mit den Schreiben und der Zahl 666 auf sich hatte. Und warum dem Opfer Penis und Hoden abgeschnitten worden waren. Er fand keine Antwort. Gegen dreiundzwanzig Uhr schloß er die Tür zu seiner kleinen Zweizimmerwohnung auf, schlug die Tür mit dem rechten Fuß zu. Der Alkohol war ihm zu Kopf gestiegen, er war müde. Er ging in die Küche, holte zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich auf die Couch. Er riß den Verschluß einer Dose auf, nahm einen kräftigen Schluck. Er zündete sich eine Marlboro an, inhalierte tief. Er ließ seinen Blick durch das Zimmer streifen, dessen Möbel fast sämtlich vom Flohmarkt oder aus Secondhand-Geschäften stammten. Nach dem Auffliegen seiner Affäre mit einer anderen Frau hatte seine Frau ihn kurzerhand aus der gemeinsamen Wohnung hinausgeworfen. Er hatte einige Nächte bei einem Bekannten verbracht, bis er dieses Loch fand. Neunhundert Mark Miete, dazu die zusätzlich anfallenden Kosten wie Strom und Heizung sowie das Auto und Telefon, der Unterhalt für seine Frau und die drei Kinder – es blieben ihm gerade noch vierhundert Mark im Monat zum Leben. Er fragte sich bisweilen, wofür er noch lebte, wofür er arbeitete. Seine Zukunft war vorprogrammiert, er würde, wenn nicht ein Wunder geschah, vermutlich die nächsten zehn Jahre nicht aus diesem Loch herauskommen, zumindestso lange nicht, bis die Kinder alt genug waren und ihre Mutter arbeiten gehen konnte. Oder wenn sie wieder heiratete, was er aber für eher unwahrscheinlich hielt. Er hatte sie derart gekränkt, der Stachel der Demütigung saß so tief, daß ihre Rache vermutlich nie aufhören würde, sie ihn bluten lassen würde, bis kein Blut mehr in seinen Venen war. Seit der Scheidung vor einem Jahr hatte sie kaum noch ein Wort mit ihm gewechselt, hatte sie alles daran gesetzt, daß er die Kinder so wenig wie möglich zu Gesicht bekam. Entweder waren sie krank, oder sie wollten ihn angeblich nicht sehen, oder sie tat einfach so, als hätte sie den vereinbarten Termin vergessen. Er wußte nicht, was sie den Kindern, von denen das älteste, Patrizia, gerade einmal acht Jahre alt war, alles über ihn erzählt hatte, doch die Art, wie sie sich ihm gegenüber verhielten, wenn er sie denn einmal sah, sagte ihm, daß es nichts Gutes sein konnte. Aber er hatte vor zwei Jahren nicht nur seine Frau und die Kinder verloren, auch die Sache mit seiner Geliebten war in die Brüche gegangen, von einem Tag auf den anderen, sie wollte plötzlich nicht mehr, hatte ihm nur einen kurzen Brief geschrieben und ihm mitgeteilt, daß sie ihn vorläufig nicht sehen wollte; außerdem hatte sie darum gebeten, nicht mehr angerufen zu werden und auch keine Briefe mehr zu erhalten. Ihre Nerven lägen einfach blank, und sie habe endgültig die Nase voll, würde die ständigen Anrufe seiner Exfrau nicht mehr ertragen und sich jetzt neu orientieren. Einige Zeit zu ihren Eltern fahren, versuchen, Abstand zu gewinnen. Obwohl die Telefonnummer ihrer Eltern in seinem Notizbuch stand, hatte er sich beherrscht und ließ einige Wochen verstreichen, bis er es nicht mehr aushielt. Er hatte sich schrecklich einsam und allein gefühlt, vielleicht ein wenig zuviel getrunken; er hatte ihre Nummer gewählt, doch ihr Telefon war abgemeldet, nur ein blechernes»Kein Anschluß unter dieser Nummer« war zu hören; er war noch in derselben Nacht zu ihrer Wohnung gefahren, doch nicht einmal mehr ihr Namensschild hing an der Klingel. Dann hatte er bei ihren Eltern angerufen, doch die gaben vor, keine Ahnung zu haben, wo ihre Tochter sich aufhielt. Obwohl er wußte, daß dies gelogen war, hatte er nicht weiter nachgefragt. Auf jeden Fall hatte er seitdem nichts mehr von ihr gehört.
Es gab Abende, an denen er die Einsamkeit nicht mehr ertrug und sich sinnlos betrank oder an denen er vor dem Fernseher saß, bis er endlich einschlief. Die wenigen seiner früheren Freunde hatten sich von ihm abgewandt, sein Vater, ein vermögender Großhändler für Elektrogeräte und zugleich ein fleißiger Kirchgänger, hatte ihn als verfluchten Hurenbock hingestellt und ihm unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß er ab sofort keinen
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