Das achte Opfer
sich, griff zum Telefon, wählte ihre Nummer. Sie war selbst am Apparat.
»Es war ein schöner Tag«, sagte er. »Danke dafür.«
»Ich habe zu danken. Und wenn du mich kennst, dann weißt du, wie ich in Wirklichkeit fühle. Schlaf gut und träum was Süßes. Ich denke an dich.«
Montag, 7.30 Uhr
Wie immer war Berger schon lange vor den anderen Beamten der Mordkommission im Präsidium. Vor ihm lag der komplette Autopsiebericht von Winzlows Leiche, der sich ähnlich las wie die Berichte von Matthäus und Neuhaus. Noch als er allein im Büro über den Akten saß, klopfte es an die Tür.
»Herein«, sagte Berger und schaute auf. Ein junger Mann mit langen Haaren trat ein, er hielt einen Umschlag und eine weiße Lilie in der Hand.
»Das soll ich für eine Kommissarin Durant abgeben«, sagte er und legte beides auf den Schreibtisch. Er wandte sich gleich wieder um und wollte gehen, als Bergers Stimme ihn zurückhielt.
»Einen Augenblick. Von wem kommt das?«
Der junge Mann zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Das ist gestern hier beim Pförtner abgegeben worden.«
»Gestern«, murmelte Berger nachdenklich. »In Ordnung, Sie können gehen.«
Als der junge Mann das Büro verlassen hatte, warf Berger einen langen Blick auf den Umschlag und die Blume. Noch während er das tat, trafen Julia Durant und Kullmer ein.
»O mein Gott!« stieß sie hervor, als sie auf ihren Schreibtisch sah. »Nicht schon wieder.« Sie stellte ihre Handtasche auf den Tisch, riß den Umschlag auf. Sie las:
»Mitten in ihm sind seine Fürsten wie brüllende Löwen, die auf Beute aus sind. Sie fressen Menschen, nehmen Schätze und Kostbarkeiten an sich und machen viele Frauen im Land zu Witwen. Seine Priester vergewaltigen mein Gesetz. Sie entweihen, was mirheilig ist. Zwischen heilig und unheilig machen sie keinen Unterschied . . . Mitten in ihm sind seine Beamten wie Wölfe, die auf Beute aus sind; sie vergießen Blut und richten Menschenleben zugrunde, um Gewinn zu machen . . . Die Bürger des Landes erpressen und rauben. Sie beuten die Schwachen und Armen aus . . . Darum schütte ich meinen Groll über sie aus. Ich vernichte sie im Feuer meines Zorns. Ihr Verhalten lasse ich auf sie selbst zurückfallen . . . Die Häupter dieser Stadt sprechen Recht und nehmen dafür Geschenke an, ihre Priester lehren gegen Bezahlung . . . Das ist der Geist des Antichrists, über den ihr gehört habt, daß er kommt. Jetzt ist er schon in der Welt.«
Julia Durant reichte den Zettel wortlos an Berger weiter. Während er las, trafen Kommissar Hellmer und einige andere Beamte der Sonderkommission ein. Es herrschte eine angespannte Atmosphäre. Berger blickte auf, erhob sich und stellte sich ans Fenster. Es würde wieder ein heißer Tag werden, und entgegen aller Wetterprognosen brannte die Sonne bereits jetzt mit erbarmungsloser Kraft auf die Erde, kaum ein Windzug regte sich. Die Straßenbahn Richtung Höchst bog gerade um die Ecke, vor der Ampel am Platz der Republik stauten sich die Autos.
»Und jetzt?« fragte Hellmer, nachdem auch er gelesen hatte.
»Was, und jetzt?« fragte Julia Durant ungehalten zurück. »Er wird wieder morden, und wir wissen nicht, wo er zuschlägt.«
Berger drehte sich um, sah einen Beamten nach dem anderen an und sagte: »Gut, nehmen Sie Platz. Kommen wir gleich zur Sache; was haben Sie zu berichten, Kollegin Durant?«
Sie zündete sich eine Gauloise an, rauchte ein paar Züge und antwortete: »Ich war am Samstag bei Winzlows Exfrau in Bad Homburg. Sie erzählte mir einige bemerkenswerte Dinge aus dem Leben von Winzlow. So war er zum Beispiel ein Päderast, er hat sich zumindest an seinem eigenen Sohn vergangen. Daß Winzlow unter Umständen diese Neigung besaß, wurde Kollege Hellmer und mir zum ersten Mal bewußt, als wir am Freitag nachmittag in Winzlows Museum gingen. Eigentlich wollten wir nur sein Büro durchsuchen, dabei fiel uns auf, daß zur Zeit dort eine Ausstellung stattfindet mit Bildern, die ausschließlich von Kindern gemalt wurden. Dabei handelt es sich um eine Ausstellung, die weltweit gezeigt wird und in Deutschland nur in Frankfurt. Mir kam, als ich die Bilder sah, einfach nur das Schreiben in den Sinn, wo der Täter zitiert: ›Wer einem von diesen Kleinen‹ und so weiter und so fort . . . Ich dachte nur, daß hier unter Umständen ein direkter Zusammenhang besteht. Und wie mir Frau Winzlow am nächsten Tag bestätigte, hatte ich recht. Doch ob dies allein der Grund für Winzlows Tod war, wage
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