Das achte Tor
Sekunden, um zu antworten.
Ein seltsames Gefühl übermannte sie bei diesem Wiedersehen. Ein bislang unbekanntes Gefühl, das sie zugleich winzig klein und riesig groß machte. Himmelhochjauch-zend und zu Tode betrübt, lebhaft und …
»Shaé?«
Dann fing sie sich wieder.
»Die Frage muss ich dir stellen. Wie geht es deiner Schulter?«
Nathan bewegte vorsichtig seinen Arm.
»Ganz gut. Der Arzt, der mich genäht hat, sagte, ich hätte Glück gehabt, dass der Hund nicht die Oberarmar-terie durchtrennt hat.«
»Der Hund?«
»Ich konnte ihm doch kaum etwas von einem Werwolf 138
erzählen, oder? Es sei denn, ich hätte gewollt, dass sie mich sofort einliefern. Ich denke auch, dass er mir die Geschichte abgenommen hat. Und du, wie geht’s dir?«
Shaé deutete mit der Hand auf den großzügigen Raum, in dem sie sich befanden.
»Sagen wir mal so: Ich bin das alles nicht gewohnt. Bei mir zuhause ist es … normaler. Und außerdem verstehe ich nicht, was ich hier überhaupt soll. Ich habe ein Zimmer, als würde ich mich hier niederlassen. Aber ich muss zurück nach Hause. Meine Pflegeeltern machen sich bestimmt Sorgen.«
Hinter ihnen erhob sich eine Stimme:
»Das Problem mit Ihren Pflegeeltern ist geregelt. Ich habe sie informiert.«
Barthélemy kam auf sie zu, ein freundliches Lächeln auf den Lippen.
»Es tut mir leid, dass ich euch habe warten lassen.
Ich …«
»Was heißt das: das Problem ist geregelt?«
Shaé klang hart, beinahe aggressiv. Barthélemy lächelte unbeeindruckt.
»Das werde ich Ihnen gleich erklären, aber lasst uns zuerst zu Tisch gehen. Ich bin hungrig, und vor mir liegt ein anstrengender Nachmittag.«
Sie gingen ins Esszimmer, wo ihnen ein livrierter Oberkellner eine schmackhafte Mahlzeit servierte. Shaé und Nathan, die seit dem Vorabend nichts gegessen hatten, stürzten sich aufs Essen und überließen Barthélemy die Konversation. Er begann mit einer Frage.
»Habt ihr eine Idee, weshalb ihr von einer ganzen Kompanie Polizisten verfolgt werdet?«
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Nathan und Shaé tauschten überraschte Blicke aus.
Mit diesem Einstieg hatten sie nicht gerechnet.
»Nein«, antwortete Nathan schließlich.
»Ein Polizist hat einen ordentlichen Schlag abbekom-men«, fügte Shaé hinzu. »Aber das erklärt nicht, weshalb sie so hinter uns her sind.«
»Da haben Sie recht«, sagte Barthélemy plötzlich in ernstem Tonfall. »Sagen Sie, Shaé, dieser Junge, von dem Nathan mir erzählte, dessen Auto ihr ausgeliehen habt …«
»Eddy?«
»Genau. Kennen Sie ihn?«
»Nein.«
»Und du?«, fragte Barthélemy Nathan.
»Ich habe ihn gestern, als ich Shaé zu Hilfe kam, zum ersten Mal gesehen. Warum?«
Barthélemy fuhr sich mit der Hand durch sein graume-liertes und sehr kurz geschnittenes Haar. Er wirkte besorgt.
»Und als du ihr zu Hilfe kamst, wie du sagst, hast du da fest zugeschlagen?«
»Fest genug, damit er Ruhe gab, aber er war weder ernsthaft verletzt noch bewusstlos. Was ist mit ihm?«
»Nichts Besonderes. Ich wollte nur sicher sein, dass ihr in diese Sache nicht verwickelt seid. Aber jetzt bin ich beruhigt. Ich habe mir erlaubt, mich mit Ihren Pflegeeltern in Verbindung zu setzen, Shaé, um ihnen zu sagen, dass Sie eine unerwartete Einladung von Nathan erhalten hätten. So kann niemand eine Verbindung zwischen Ihnen und Eddy herstellen.«
»Aber Eddy und diese Kerle sind doch nicht so wichtig, oder?«, entrüstete sich Nathan. »Wir müssen zuerst raus-140
kriegen, wer die Typen sind, die uns verfolgen, und ob sie auch meine Eltern getötet haben.«
Barthélemy schnitt bedächtig ein Stück Geflügelfleisch ab.
»Einverstanden«, erklärte er. »Ich habe die Familie informiert. Du kannst sicher sein, dass …«
»Welche Sache?«, fiel ihm Shaé ins Wort.
»Wie bitte?«
»Sie haben vorhin auf eine Sache angespielt, als Sie über Eddy sprachen.«
Barthélemy taxierte sie schweigend und legte dann langsam sein Besteck ab.
»Die Polizei hat Eddy auf dem Parkplatz gefunden, von dem ihr gesprochen habt.«
Bevor er fortfuhr, nahm er einen Schluck Wein.
»Tot und in Stücke gerissen.«
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ls Barthélemy den letzten Satz aussprach, heftete er A seinen Blick auf Nathan und Shaé, um auch nur die geringste Reaktion der beiden zu erhaschen. Die Mischung aus Überraschung und Bestürzung, die sich auf ihren Gesichtern abzeichnete, schien ihn schließlich davon zu überzeugen, dass sie für die Ermordung Eddys in keiner Weise verantwortlich waren.
»Die Helluren!«, rief
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