Das achte Tor
Nathan.
»Es gab andere Eingänge.«
»Es gab?«
»Das Haus gehört meinen Vorfahren seit der Gründung Marseilles. Die Eingänge, die wir nicht kontrollieren, sind vor Jahrhunderten verschlossen worden.«
Sie hatten soeben einen Saal betreten, der nur zur Hälfte gemauert war. Die Wand gegenüber dem Eingang war aus natürlichem Fels, ebenso die Decke, von der eindrucksvolle Tropfenformationen hingen, von starken Scheinwerfern ausgeleuchtet.
Während Anton weiterging, hielt Barthélemy kurz in-ne, damit Nathan den überwältigenden Eindruck genie-166
ßen konnte. Er deutete auf eine beeindruckende Anzahl von Holz- und Metallkisten, die in einer Ecke gestapelt waren, und auf eine dunkle, leise plätschernde Wasserfläche, die sich zwanzig Meter von ihnen entfernt befand.
»Ein Teil der Familienarchive«, sagte Barthélemy und zeigte auf die Kisten, »und dort ist das Meer. Wir sind auf Meereshöhe.«
»Hat dieses Becken eine Verbindung nach draußen?«, fragte Nathan.
Zu seinem Erstaunen warf Barthélemy, bevor er antwortete, einen kurzen Blick hinüber zu Anton, wie um sicherzugehen, dass er nichts hören konnte.
»Ja, durch einen Stollen, der ungefähr drei Kilometer lang ist und in der Nähe der Inseln von Frioul mündet. In dieser Kiste befinden sich sorgfältig gewartete Tauchaus-rüstungen. Damit kann man im Notfall nach draußen schwimmen.«
»Ein Fluchtweg?«
»In gewisser Weise ja. Wir leben in einer ruhigen Periode, aber das war nicht immer so. Und da es bis jetzt nicht notwendig war, habe ich praktisch niemanden über die Existenz dieses Tunnels informiert.«
Anton kam wieder zurück.
»Wollen wir weiter?«
Barthélemy nickte und führte seine beiden Begleiter quer durch den Saal bis zu einem Gang. Er war drei bis vier Meter hoch und von großen Glühbirnen beleuchtet, die in engen Abständen angebracht waren. Der Steinboden war durch die Abnutzung blank poliert und leicht ausgetreten. Nathan schauderte bei der Vorstellung, wie 167
viele Jahre es gebraucht hatte, um solche Spuren zu hinterlassen.
Jahrhunderte.
Am Ende des Gangs tat sich ein weiterer Saal auf.
Barthélemy blieb stehen, bevor sie ihn erreicht hatten und lehnte sich mit dem Rücken an eine Wand. Anton wandte sich zu Nathan um.
»Wir sind da.«
Nathan warf einen Blick ringsum. Die Wände wiesen keinerlei Besonderheit auf, und auch der Boden war überall gleich, ebenso das Licht.
»Was … was meint ihr?«
Anton runzelte die Augenbrauen und blickte verdros-sen.
»Öffne die Tür!«
»Die Tür?«
Wieder hatte Nathan das Gefühl, dass sein Leben ins Schleudern geriet und er sich auf einer unkontrollierbaren Rutschbahn aus der Realität entfernte.
Anton wurde ärgerlich.
»Siehst du sie nicht?«
»Ich erkenne nichts. Ich … ich sehe keine Tür.«
»Tatsächlich nicht?«, rief Anton empört. »Bist du wirklich der, der du zu sein vorgibst?«
»Das ist beim ersten Mal häufig der Fall«, besänftigte ihn Barthélemy. »Das ist nicht schlimm.«
Er wandte sich an Nathan.
»Sieh dir diese Wand an. Ein bisschen weiter links. Da.
Konzentriere dich. Nein, nicht den Kopf drehen, konzentriere dich! Was siehst du?«
»Na ja, nichts. Was ist …«
168
»Ich habe dir gesagt: nicht den Kopf drehen! Konzentriere dich, versuche, andere Formen zu sehen, jenseits der Realität!«
»Ich kann nichts …«
Nathan verstummte. Dort, wo er noch vor einer Sekunde eine gleichmäßige felsige Oberfläche wahrgenommen hatte, entdeckte er plötzlich eine rechteckige Form. Zwei Meter hoch und einen Meter breit, aus Holz, mit Türangeln und einem Griff.
Eine Tür!
Wieso hatte er sie, verdammt noch mal, vorher nicht erkannt?
Anton nahm seinen verdutzten Gesichtsausdruck freudig zur Kenntnis.
»Sehr gut, Kleiner. Ich wusste, dass du es schaffen würdest. Offne sie!«
Nathan zögerte einen kurzen Moment und legte die Hand auf den Türgriff. Er war kalt und glatt, sehr alt.
Aber er funktionierte perfekt, als er ihn hinunterdrückte.
Mit einem dezenten Knarren ging die Tür auf.
Ein Lichtstrom ergoss sich in das Gewölbe.
***
»Du bist also das Mädchen, das mein Cousin aufgegabelt hat?«
Shaé spürte, wie Wut in ihr aufschäumte. Mit drei Sätzen hatte Enola sie dreimal verspottet. Drei gezielte Pfeile, die Shaé keine Möglichkeit zur Erwiderung ließen, so wirkungsvoll war diese Feindseligkeit. Enolas Worte trafen hart, während ihr scheinbar argloses Lächeln und 169
ihr Auftreten als wohlerzogene Tochter sie so wirksam
Weitere Kostenlose Bücher