Das achte Tor
Sie täuschte sich nicht: Nicht aus Egoismus, sondern weil sie unfähig war, sich auszudrücken, sprach er für sie. Dafür war Shaé ihm unglaublich dankbar.
***
Der Nachmittag verging wie im Flug. Eine seltsame, monologartige Konversation, die die Richtung für eine Beziehung außerhalb der Norm aufwies.
Zu keinem Zeitpunkt berührten sie sich.
Was sie füreinander empfanden, lag weit jenseits körperlichen Verlangens.
Die Sonne verschwand hinter dem Horizont, und die Sanftheit des Nachmittags geriet zur Erinnerung. Shaé 155
fror trotz ihres Pullis. Nathan hätte sie um ein Haar in die Arme genommen, doch die Furcht, alles zu zerstören, hielt ihn zurück.
»Und wenn man bedenkt, dass der blöde alte Rafi Dingsbums uns das alles beschert hat.«
Shaé wusste, was er sagen wollte. Sie empfand dasselbe Glück wie er.
Sie drehten sich um, weil sie hinter sich Schritte hörten.
»Monsieur, Mademoiselle, die Gäste sind eingetroffen.
Wenn Sie sich bitte die Mühe machen wollen, mir ins Haus zu folgen.«
Mit unbeweglicher Miene blieb der Butler einen Meter von ihnen entfernt stehen, so steif, als hätte er einen Besen verschluckt. Shaé lief der Schauder einer bösen Vorahnung über den Rücken. Wenn er sich nur die kleinste Andeutung erlauben würde. Er tat es nicht. Nathan machte eine geistesabwesende Kopfbewegung und bedeutete ihm dann, sich zu entfernen. Nach einer respekt-vollen, beinahe unterwürfigen Verbeugung zog sich der Butler zurück.
»Warum spielt er sich dir gegenüber nicht auf?«, fragte Shaé verwundert.
»Wer?«
»Na, der Typ!«
»Keine Ahnung«, antwortete Nathan leicht überrascht.
»Er ist nicht hier, um sich aufzuspielen, sondern um seinen Job zu machen, das ist alles.«
Shaé wusste, dass die Realität komplizierter war, doch sie sagte nichts.
Langsam gingen sie zur Villa zurück.
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Barthélemy empfing sie mit einem freundlichen Lä-
cheln. Er führte sie in einen riesigen Empfangssaal, in dem ein Buffet aufgebaut war. Um sie herum standen ungefähr dreißig Personen in kleinen Gruppen und un-terhielten sich mit der Vertrautheit von Leuten, die sich seit Ewigkeiten kannten.
Bei ihrer Ankunft wurden die Gespräche leiser, bevor sie verstummten.
»Meine Freunde«, verkündete Barthélemy in feierli-chem Ton, »ich stelle euch Nathan vor, Lucs einzigen Sohn. Nathan, die Männer und Frauen vor dir stellen einen winzigen Bruchteil deiner Familie dar, aber sie halten einen Großteil ihrer Macht in den Händen. Sie sind aus allen Himmelsrichtungen gekommen, um dich kennenzulernen.«
Die Blicke ruhten so schwer auf Nathan, dass er weiche Knie bekam.
»Stell dich gerade hin!«
Der Mann, der diesen Befehl gebrüllt hatte, durchquerte mit großen Schritten den Raum und baute sich vor Nathan auf. Er war mindestens siebzig Jahre alt, gebaut wie ein Stier, und die Züge seines zerfurchten Gesichts belegten, dass er zu denen gehörte, die ihr Leben lang gekämpft hatten.
Und gewonnen.
Unter seinem leuchtend weißen, sorgfältig zurückgekämmten Haar funkelten grüne Augen.
»Stell dich gerade hin, Kleiner! Ich möchte nicht bedauern, dass ich wegen dir hergekommen bin!«
Nathan richtete sich wie eine Sprungfeder auf.
»Schon besser so. Ich bin Anton.«
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Das Leuchten im Blick des alten Mannes wurde noch intensiver.
»Dein Großvater!«
***
Shaé beobachtete fassungslos die Szene. Als Barthélemy zu reden begonnen hatte, fragte sie sich, ob Nathans Familie, diese reiche und so mächtige Familie, nicht schlicht und ergreifend ein Zweig der Mafia war. Geld, Geheimnisse, die Bündelung der Macht, die Bedeutung der Blutsbande, die Waffen – die Vermutung lag nahe.
Shaé kannte mindestens drei der Männer am Buffet von Fotos aus dem einen oder anderen Magazin. Seiten, die sie überflogen hatte. Es erstaunte sie, dass sie sich überhaupt daran erinnerte. Seiten über Wirtschaft, über Politik. Zwar besaßen diese Männer nicht die gleiche Nationalität, aber war es möglich, dass sie zur selben Familie gehörten?
Ein Paillettenkleid mit atemberaubendem Dekollete erregte ihre Aufmerksamkeit. Die Frau, die es trug und Nathan mit einem ironischen Zug um den Mund beobachtete, war niemand anderes als Cindy Fraser! Shaé blieb der Mund offen stehen. Cindy Fraser! Die Schau-spielerin, die die stürmischen Zeiten des amerikanischen Kinos durchlebt hatte, ohne ihr Publikum zu verlieren und auch nur eine Falte davonzutragen. Eine Legende.
Konnte es sein, dass sie …
»Du
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