Das achte Tor
schützten wie eine Ritterrüstung.
Es kostete Shaé eine gigantische Willensanstrengung, der jungen Frau nicht mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Aber sie befand sich nicht in ihrem Viertel und es war kein Krimineller, der sie beschimpfte. Die Reflexe, die ihr dort oft aus brenzligen Situationen geholfen hatten, waren hier verboten. Und sie war vor allem davon überzeugt, dass Enola nur auf einen Fehler ihrerseits wartete, um sie fertigzumachen.
Shaé hatte überhaupt keine Lust, ihr diesen Gefallen zu tun.
»Er hat mir geholfen, das stimmt.«
Kaum hatte Shaé das gesagt, biss sie sich auf die Zunge. Weshalb klangen ihre Sätze so jämmerlich? Sie hätte besser geschwiegen. Das war die einzig vernünftige Haltung, wenn sie sich schon wie ein Trottel ausdrückte.
Enola sah sie mit himmelblauen Augen an.
»Er hat dir geholfen? Wie romantisch.«
Shaé sah weg.
Sie bloß nicht anschauen.
Und nichts erwidern.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Nathan den Raum verließ. Shaé zuckte zusammen. Er würde sie doch hier nicht alleine lassen? In den Fängen dieses Mädchens, das sich über sie lustig machte? In dieser verkorksten Familie, wo die Großväter ihre Enkel brüllend empfingen?
Ohne nachzudenken ließ sie Enola stehen und bahnte sich einen Weg durch die Gruppen von Männern im Anzug und Frauen in Abendkleidern, die ihr keinerlei Aufmerksamkeit schenkten. Sie erreichte die Tür, durch 170
die Nathan verschwunden war. Vor ihr tat sich ein erleuchteter Gang mit mosaikverzierten Wänden auf.
Shaé ging hinein.
Nach zehn Metern hörte sie Geräusche einer Unterhal-tung, die näher kamen. Weibliche Stimmen.
Shaé fürchtete, ertappt zu werden. Sie gehörte nicht zur Familie und hatte an diesem Ort nichts verloren.
Wenn man sie des Diebstahls oder irgendeines anderen Vergehens bezichtigen würde, wäre sie unfähig, sich zu verteidigen. Sie suchte nach einem Versteck.
Vergeblich.
Zwei Umrisse zeichneten sich am Ende des Flurs ab.
Bevor sie entdeckt werden konnte, stieß Shaé wahllos eine Tür auf und machte sie hinter sich sofort wieder zu.
Sie stand am oberen Ende einer schmalen Treppe, die nach unten ins Kellergeschoss der Villa führte. Trotz der Lampen, die den Abstieg erleuchteten, verströmte der Ort eine beklemmende Atmosphäre, hervorgerufen durch Feuchtigkeit und Finsternis. Shaé wollte gerade wieder hinaus, als das Etwas in ihr zu zittern begann. Ein seltsames Zittern. Anders als bei den unzähligen Ereignis-sen zuvor. Es war ein freundliches Zittern.
Im selben Augenblick drang ihr ein Duft in die Nase.
Ein leichter. Fast nicht wahrnehmbar. Und dennoch roch sie ihn.
Nathans Duft!
Shaé stieg die Treppe hinab. In absoluter Gewissheit.
Ohne sich weitere Fragen zu stellen und in dem Bewusstsein, eine Dummheit zu begehen, konnte sie sich dennoch nicht daran hindern weiterzugehen.
Sie benötigte gut fünf Minuten, bis sie die letzte Stufe 171
erreicht hatte. Ein riesiger Saal tat sich vor ihr auf, mit einem Stapel Kisten auf der linken und einer schwarzen, wenig einladenden Wasserfläche auf der rechten Seite.
Der Duft war immer noch da.
Stärker. Besser wahrnehmbar. Begleitet von einer Vielzahl anderer Duftnoten.
Unter diesen Düften erkannte Shaé Barthélemys Eau de Toilette und Antons Haarwasser. Letzterem war sie nicht mehr als zehn Meter nahe gekommen, dennoch pochte es ganz deutlich in ihr: An diesem Morgen hatte er seine Haare mit einem Mittel eingesprüht, dessen Hauptbestandteile Minze und Zwergpalmenfrüchte waren. Dieser Duft vermengte sich mit dem intimeren Aroma, das jede seiner Zellen freisetzte, zu einer einzig-artigen Kombination. In Shaé wuchs eine zweite Gewissheit: Von nun an konnte sie ihn mit geschlossenen Augen in der dunkelsten Nacht erkennen!
Dieser Gedanke entlockte ihr ein zufriedenes Lächeln, das ihre Zähne aufblitzen ließ.
Jeder ihrer Muskeln war angespannt. Sie durchquerte den Saal und betrat einen weiteren Gang. So leise wie ein vergessener Traum.
Drei Schritte. Dann blieb sie stehen.
Auf der rechten Wand zeichnete sich eine Tür ab. Sie war geschlossen und geschickt getarnt, um unsichtbar zu erscheinen. Dennoch konnte man sie unmöglich verfeh-len.
Das blaue Licht, das aus ihr herausstrahlte, hätte einen Blinden angelockt!
172
8
athan hatte sich an das Halbdunkel des Kellerge-N wölbes gewöhnt. Das intensive Licht in dem vor ihm liegenden Raum blendete ihn, und er musste blin-zeln.
Es war ein natürliches Licht, weiß und
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