Das achte Tor
solltest den Mund zumachen, sonst siehst du aus wie ein kleiner dummer Goldfisch.«
Shaé zuckte zusammen.
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Das Mädchen, das ihr gegenüberstand, war in ihrem Alter. Sie trug ein elegantes, schillerndes Abendkleid, das ein Vermögen gekostet haben musste, und war sehr hübsch. Eine sinnliche Schönheit, die durch die wallen-den blonden Locken, die ihr engelhaftes Gesicht ein-rahmten, noch betont wurde. Sie strahlte Shaé an.
»Ich sage das dir zuliebe, verstehst du. Die Leute hier bilden sich schnell eine Meinung. Also sollte man sich vom ersten Augenblick an um einen guten Eindruck bemühen, findest du nicht? Ich heiße Enola und bin die Tochter von Barthélemy.«
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ch bin dein Großvater!«
I Der Satz hallte noch lange in Nathans Kopf nach. Er hatte einen Großvater!
»Du hast Ähnlichkeit mit Luc, meinem Sohn.«
Die Stimme des alten Mannes zitterte. Für den Bruchteil einer Sekunde. Dann fing er sich wieder.
»Mit meinem Sohn, als er jung war, bevor er ein dummer und sentimentaler Waschlappen wurde!«
Nathan riss die Augen weit auf. Sein Vater, ein dummer und sentimentaler Waschlappen? Die Vorstellung war so grotesk, so weit weg von der Realität, dass er beinahe lachen musste. Wenn er sich beherrschte, dann nur, weil er jedweder Person das Recht absprach, die Erinnerung an seine Eltern lächerlich zu machen.
»Mein Vater war ein bemerkenswerter Mann, und ich bin stolz, sein Sohn zu sein.«
Er hatte kraftvoll gesprochen. Anton musterte ihn von oben herab.
»Hohle Worte.«
»Vielleicht«, erwiderte Nathan, »aber ich stehe dazu, denn sie sind wahr.«
»Trotzdem hohle Worte!«
»Das ist zweifelsohne der Grund dafür, dass ich sie nie aus dem Mund meines Vaters gehört habe!«
Die wenigen Gespräche verstummten, den Leuten 160
stockte der Atem. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt, und alle schienen starr vor Erwartung.
»Dein Vater war labil!«
Das hatte Anton auf Deutsch gebellt, und die vorder-sten Zuschauer waren einen Schritt zurückgewichen.
Nathan blieb standhaft.
»Mein Vater war ein bemerkenswerter Mann, und ich bin stolz, sein Sohn zu sein«, wiederholte er mit fester Stimme.
Der alte Mann lief rot an.
»¡Repito lo que acabas de decir!«
»Mi padre era un hombre admirable y estoy muy orgul-loso de ser su hijo.«
Keine Spur von Furcht in Nathans Stimme. Wenn dieser eingebildete Alte glaubte, ihn mit seinen Sprach-kenntnissen zu beeindrucken, täuschte er sich. Anton wurde lauter und schrie fast:
»Upprepa det du precis sa!«
»Min far var en enastående man och jar är stolt över att vara hans son! Mein Vater war ein bemerkenswerter Mann, und ich bin stolz, sein Sohn zu sein. Ich kann dir das auch auf Englisch, Japanisch oder sogar auf Russisch sagen, wenn es dir Spaß macht. Serbisch oder Koreanisch spreche ich zwar nicht, aber das ändert nichts an meiner Überzeugung: Mein Vater war ein bemerkenswerter Mann, und ich bin stolz, sein Sohn zu sein!«
Nathan merkte, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte, und zwang sich, sie wieder zu öffnen. Seine Finger knackten dabei, und dieses Geräusch klang seltsam in der Stille.
Nathan bemerkte ein nervöses Zucken am Augenlid 161
seines Großvaters, und er fragte sich trotz seiner Gewissheit, sich im Recht zu befinden, ob er nicht eine unsichtbare und gefährliche Grenze überschritten hatte. Allerdings dachte er nicht im Geringsten daran das Gesagte zurückzunehmen. Er wäre bereit gewesen seine neue Familie zum Teufel zu jagen, wenn man von ihm ver-langte, seine Eltern zu verleugnen.
Nach einem unendlich langen Blick, der Nathan das Gefühl vermittelte, sein Großvater dringe bis in seine Seele vor, öffnete Anton den Mund. Sein Enkelsohn verkrampfte sich. Dennoch kam zu seiner riesigen Überraschung kein Fluch über die Lippen des alten Mannes, sondern ein gewaltiges Lachen. Ein befreites, schallendes Lachen, das die Spannung der Versammlung hinwegfegte wie ein Orkan die Wolken.
»Dieses Blut könnte niemals lügen!«, rief Anton, als er sich ein wenig beruhigt hatte. »Ich liebe junge Leute mit Überzeugungen, die sie auch verteidigen. Komm her, damit ich dich dir der Familie vorstelle.«
Er nahm den verdutzten Nathan liebevoll am Arm und zog ihn hinüber zu den Zeugen ihres Wortge-fechts.
»Dieser Junge wird seinen Weg machen. Ich rechne auf euch, dass ihr ihn so aufnehmt, wie er es verdient. Nathan, das ist Paolo. Er ist ein Cousin dritten Grades vom Onkel deiner Großmutter. Ihm gehören
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