Das achte Tor
aber er sah weder Enola noch Noura. Nahmen also nicht alle Mitglieder am Familienrat teil? Sein Großvater beantwortete seine stumme Frage:
»Die Familie zählt Tausende von Mitgliedern in der ganzen Welt. Bei einer solchen Vielzahl sind außerfamiliäre Beziehungen unvermeidlich und daher geduldet. Allerdings muss der Fortbestand der Familie gesichert werden.
Deshalb müssen Kinder aus diesen Ehen ihre Prüfung ablegen, bevor sie eine wie auch immer geartete Rolle unter uns anstreben. Der Rat setzt sich zusammen aus der Elite der Familie. Einhundertzwölf Männer und Frauen, die ihren Stammbaum über Jahrhunderte zu-rückverfolgen können und eine außergewöhnliche Macht besitzen. Sie treffen sich in regelmäßigen Sitzungen, im Plenum oder einzeln, um den Zusammenhalt der Familie zu schützen. Der Rat beeinflusst unsere generelle Politik und wacht darüber, dass die Handlungen jedes Einzelnen im Interesse aller sind. Seine Beschlüsse sind unwiderruf-lich.«
»Weshalb bin ich also hier?«, fragte Nathan.
Ungewollt war sein Tonfall hart, fast aggressiv. Nach Shaés Kritik hatte ihn nun die Tirade seines Großvaters 190
endgültig verunsichert, und er empfand plötzlich gar keine Gemeinsamkeit mehr mit den Personen, die sich um den Tisch versammelten.
»Du bist hier, um uns Auskunft zu geben«, erwiderte Anton, »keineswegs, um an den Beratungen teilzunehmen.
Es ist übrigens wenig wahrscheinlich, dass du jemals daran teilnehmen wirst. Und jetzt möchte ich, dass du uns er-zählst, was du in den letzten drei Tagen erlebt hast.«
Nathan war kurz davor, den Raum zu verlassen und die Tür hinter sich zuzuschlagen, aber es gelang ihm mit äußerster Mühe, sich zu beherrschen.
Er wählte seine Worte genau und schilderte ein weiteres Mal die Ereignisse, die zu seiner Flucht geführt und seine Reise bestimmt hatten. Wie er es erwartet hatte, unterbrachen ihn die Familienmitglieder mehrmals und forderten präzisere Angaben, wobei sie sich besonders für die Helluren und Lykanthropen interessierten.
»Das sind eindeutig Kreaturen aus Mesopia«, bestätigte Ghislaine, nachdem sie ihn aufgefordert hatte, erneut das Monster zu beschreiben, das ihn am See angegriffen hatte. »Ich hatte allerdings geglaubt, dass die Tore der Baumeister nach Malarkadien zugemauert seien.«
»Jemand hat sie wieder geöffnet«, warf Anton ein, »und wendet sich jetzt gegen uns.«
»Gegen uns?«
»Das Ziel ist die Familie von Luc und Nathan. Hast du daran Zweifel?«
»So klar ist das nicht«, entgegnete Ghislaine. »Dein Sohn hatte sich von uns entfernt. In den sechzehn Jahren hat er sich bestimmt auch persönliche Feinde gemacht.«
»Feinde, die sich der Tore der Baumeister bedienen 191
würden? Ein erstaunlicher Zufall! Du vergisst außerdem, dass Barthélemy einen Spion in unserem Haus bemerkt hat. Denk nach, und du wirst feststellen, dass es dafür nur eine Erklärung gibt: Eine Familie, die nicht so geschwächt ist, wie wir glaubten, versucht uns zu vernichten. Wir müssen nur herausfinden, welche.«
Ghislaine schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ich fürchte, deine Schlussfolgerungen sind voreilig.
Wie denkst du darüber, Aimée?«
Die Blicke wanderten zu einer winzigen Frau, die am anderen Tischende saß. Die weißen Haare zum Dutt geknotet, hatte sie die Silhouette eines jungen Mädchens und das zerfurchte Gesicht einer Hundertjährigen. Sie schien zerbrechlich, doch sie sprach mit klarer und fester Stimme.
»Einige Elemente müssen noch genauer beleuchtet werden, bevor wir uns äußern können, ohne einen Irrtum zu riskieren. Barthélemy, wenn man davon ausgeht, dass derjenige, der sich in unserem Haus befand, keiner von uns war: Zu welcher Familie gehörte er?«
Barthélemy dachte nicht lange nach.
»Zu den Scholiasten oder den Metamorphen. Die anderen wären nicht in der Lage gewesen, so schnell zu laufen. Ich bin schnell, das wisst ihr, aber er hat mich ohne weiteres abgehängt.«
Aimée schloss die Augen.
Zu Nathans Überraschung wurde es noch ruhiger, als achte jeder darauf, die Gedanken der alten Dame nicht zu stören. Nach einer ganzen Weile fuhr sie sich mit den Händen übers Gesicht und heftete dann ihren dunklen Blick auf Nathan.
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»Erzähl mir ein wenig von diesem jungen Mädchen, das dich begleitet hat.«
***
Trotz seiner Müdigkeit schlief Nathan sehr schlecht.
Seine Schulter tat ihm weh, aber vor allem hinderten ihn die unzähligen Fragen, mit denen ihn Aimée gelöchert hatte, am
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