Das achte Tor
duldete. Den Kopf geneigt, die Augen halb geschlossen, lauschte er vollkommen konzentriert dem Schweigen des Hauses.
Dann stürzte er los.
Auch wenn Nathan wusste, zu welchen Leistungen der menschliche Körper imstande war und seine eigenen Spitzenleistungen kannte – die Entfesselung von Barthélemys Kraft verschlug ihm die Sprache.
In Sekundenbruchteilen erreichte er eine unglaubliche Geschwindigkeit. Er sprang über ein Sofa, kurvte geschmeidig um einen Sessel, beschleunigte weiter, stürmte in den Gang und verschwand dort.
»Wir sollten hier nicht bleiben!«
Antons Stimme klang hart. Unnachgiebig. Er erhob sich mit einer Leichtigkeit, die sein Alter Lügen strafte, und nahm Nathan am Arm.
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»Komm!«
»Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht, aber wenn Barth ein Problem sieht, dann gibt es ein Problem. Wir müssen das Haus verlassen.«
»Ich dachte, wir seien in Sicherheit«, entgegnete Nathan.
»Das dachten deine Eltern auch«, antwortete Anton,
»und jetzt sind sie tot. Folge mir.«
Sie gingen den Weg, den sie hergekommen waren, wieder zurück. Anton bewegte sich vorsichtig, alle Sinne geschärft, nichts an ihm erinnerte mehr an den verbitter-ten Alten. Er ähnelte mehr einem alten Raubtier mit großer Erfahrung, und Nathan konnte sich gut die zahlreichen Abenteuer vorstellen, denen er seine Gewandt-heit verdankte.
Sie näherten sich wieder dem rot getäfelten Raum, als Barthélemy zu ihnen stieß. Wenn Anton ein altes Raubtier war, war Barthélemy eines, das sich in der Blüte seiner Jahre befand. Als er mit seiner gebündelten Kraft lautlos auftauchte, fuhr Nathan zusammen, plötzlich erschreckt durch diesen seltsamen Onkel, der seine eigenen Fähigkeiten eher kindlich erscheinen ließ.
»Jemand hat uns belauscht«, sagte Barthélemy. »Er war schnell. Es gelang mir nicht, ihn zu fangen.«
»Ein Familienmitglied, das deine Tür benutzt hat?«, fragte Anton.
»Weshalb hätte es sich dann verstecken müssen?«
»Das ist das zweite Mal, dass ihr von Barthélemys Tür sprecht«, warf Nathan ein. »Was hat das zu bedeuten?«
»Es gibt unzählige Türen, um das Haus zu verlassen«, 184
erklärte ihm Anton, »aber sie stehen nur denjenigen offen, die mindestens einmal durch sie hindurchgegangen sind. Der Familie stehen ungefähr zwanzig zur Verfü-
gung, darunter auch diejenige, die sich unter Barths Haus befindet. Die anderen sind versteckt und über die ganze Welt verstreut, außerhalb unserer Reichweite und jenseits unseres Wissens.«
»Das verstehe ich nicht richtig«, sagte Nathan beharrlich.
Barthélemy ergriff das Wort:
»Die Baumeister haben eintausendsiebenhundertundsieben Türen erschaffen. Eintausendsiebenhundert davon, die Türen aus Holz, wurden den anderen Familien zu einer Zeit übergeben, als Friede zwischen uns herrschte. Sie erlauben, das Haus mit der Einschränkung zu betreten und zu verlassen, von der dir dein Großvater gerade berichtet hat. Die übrigen sieben Türen, die Eisentore, führen woanders hin, an unbekannte und gefährliche Orte, von denen wir nichts mehr wissen. Nur die Baumeister könnten durch sie gelangen, aber das Geheimnis dieser Tore haben sie mit ins Grab genommen.«
»Und der Spion?«, fragte Nathan vorsichtig.
»Ich kann mir schlecht vorstellen, dass ein Mitglied unserer Familie sich einen Spaß daraus macht, uns auszuspionieren. Und da die Türen unseres Systems höchster Bewachung unterliegen, muss derjenige, der sich ins Haus geschlichen hat, zwangsläufig eine andere benutzt haben.«
Nathan sah Barthélemy in die Augen, der mit kalter und tödlich klingender Stimme fortfuhr:
»Der Krieg zwischen den Familien ist wieder ausgebro-chen!«
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athan hatte das Gefühl, dass er lange im Haus war.
N Sehr lange.
Als er wieder in die Nacht von Marseille eintauchte, war er überrascht, dass weniger als eine Stunde vergangen war. Die Mitglieder seiner Familie – er musste sich daran gewöhnen, sie so zu nennen – standen immer noch am Buffet und waren in lebhafte Gespräche vertieft, die sie in vier oder fünf unterschiedlichen Sprachen führten.
Dennoch blieb seine Rückkehr nicht unbemerkt. Die Wortwechsel wurden schwächer und verstummten allmählich. Fragende Blicke richteten sich auf ihn. Als Erste brach Ghislaine das Schweigen.
»Wie erging es ihm?«
»Er hat Barthélemys Tür problemlos geöffnet«, verkündete Anton. »Auch die Terrasse und die Mole hat er gefunden.«
Nathan hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit dem
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