Das achte Tor
Wache. Die Verwandlung des Mädchens hatte sie überrascht, sie fühlten sich lächerlich gemacht. Keine Frage, das sollte sich nicht wiederholen. Und dennoch standen sie plötzlich wieder wie versteinert, als das Mädchen jetzt ein paar Meter von ihnen entfernt erneut auftauchte.
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Sie nutzte den Überraschungsmoment und machte kehrt.
»Ziel ausgemacht«, bellte ein Milizionär in sein Walkie-Talkie. »Unten, in der Nähe von Monsieur Barthélemys Tür.«
Mit vorgehaltenen Waffen hefteten sie sich dem Mädchen, das keine zehn Meter weit weg war, an die Fersen.
Nathan schlüpfte, fast unsichtbar, hinter ihrem Rücken vorbei und verließ das Haus.
Shaé zählte.
Eins. Zwei.
Bei drei verwandelte sie sich.
Das Etwas war kein Feind mehr, das musste sie sich immer wieder sagen. Die Kontrolle behalten und ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren. Im richtigen Moment wieder sie selbst werden.
Die erste Kugel pfiff ihr um die Ohren. Drüber. Bis ih-re Verfolger die Schussrichtung korrigiert hatten, war es zu spät. Als Panther benötigte sie nur einen Sekundenbruchteil, um sie abzuschütteln.
Von nun an nahm sie die Welt auf eine völlig andere Art wahr. Eine Vielzahl winzig kleiner Töne drang in ihr überentwickeltes Gehör, sie analysierte Gerüche mit fehlerfreier Präzision und vor allem: die Dunkelheit existierte nicht mehr. Mit einer phantastischen Sinnesschär-fe erkannte sie kleinste Details ihrer Umgebung. Diese außergewöhnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten in Verbindung mit der wilden Kraft, die ihr neuer Körper be-saß, zogen sie ins Unbekannte und flüsterten ihr ein, sich gehen, sich fallen zu lassen.
Sie widerstand.
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Das Leben als Panther war tausendmal intensiver als das eines menschlichen Wesens, einer mickrigen Kreatur mit verkümmerten Sinnesorganen. Es wäre so leicht, das aufzugeben und einfach für immer in diese neue Existenz zu schlüpfen …
Sie widerstand immer noch.
Sie machte einen Bogen und drehte um, zurück in den Raum, in dem die Milizionäre Wache hielten. Nathan wartete im Untergeschoss auf sie, hinter der halb offen stehenden Tür.
Bevor ihr der Panther in ihr zuflüsterte, dass dieses zerbrechliche menschliche Wesen eine leichte Beute sei, verwandelte sie sich wieder.
Nathan streckte die Hand aus, um die Tür zu schlie-
ßen.
Genau in diesem Moment schlug der Schuss ein. Shaé wurde nach vorne geschleudert und fiel erst auf die Knie.
Und dann auf den Rücken.
Sie bewegte sich nicht mehr.
Eine Blutlache breitete sich um sie herum aus.
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haé!«
S Nathan kniete neben dem leblosen Körper und hob vorsichtig Shaés blutgetränkten Wollpulli an. Die aus der Ferne abgefeuerte Kugel war in den Rücken eingedrun-gen, aber nicht wieder ausgetreten.
Äußerst behutsam drehte er Shaé auf den Bauch. Sie bewegte sich immer noch nicht, und ihre Atmung war kaum wahrnehmbar.
Nathan war auf einen grässlichen Anblick gefasst und biss die Zähne zusammen.
Sie darf nicht sterben.
Sie darf nicht …
Die Realität sickerte in sein Bewusstsein. Es war unglaublich.
Unter dem Blutfilm, der zu trocknen begann, gab es nicht die geringste Verletzung. Shaés Haut war bemerkenswert fein und straff. In ihrem Rücken klaffte keine Wunde.
»Aber – was ist das?«
Er hörte Gluckergeräusche und dann ein metallisches Klingeln. Eine Titankugel rollte über den Boden. Im selben Augenblick gab Shaé ein Stöhnen von sich.
»Shaé, ist alles in Ordnung?«
Mit Nathans Hilfe legte sie sich auf die Seite, setzte sich auf und lehnte sich gegen die Wand. Sie stöhnte 238
noch einmal und befühlte mit der Hand ihren Rücken.
Als sie sie wieder zurückzog, staunte sie über die Blut-flecken an ihrem Finger.
»Shaé, alles in Ordnung?«
»Sagen wir mal, ja.«
»Shaé, ich kapier überhaupt nicht, was los ist. Du müsstest tot sein oder zumindest in einem elenden Zustand. Wir müssen hier so schnell wie möglich verschwinden. Die Jungs, die auf dich geschossen haben, planen bestimmt den nächsten Angriff. Sie werden gleich hier sein.«
Shaé nickte, hielt sich an Nathans Schulter fest und stand auf.
Ihre ersten Schritte waren unsicher, doch sie fand schnell wieder zu einem leichten und sicheren Gang.
Nathan traute seinen Augen nicht.
»Das ist unmöglich«, stammelte er, »unmöglich.«
Sie hatten die Halle mit dem Wasserbecken hinter sich gelassen und kamen an die Treppe, die zur Villa hinaufführte, als sie hinter sich Stimmen hörten.
»Wir sollten einen Zahn
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