Das achte Tor
machten auf dem Absatz kehrt.
Kein Schuss war mehr zu hören, das Haus schien verlassen. Nur das wilde Grollen der Todeshunde zeugte vom Gegenteil. Ein Grollen, das jetzt von überall her zu kommen schien.
Shaé zwang Nathan stehen zu bleiben.
»Ich schaffe es nicht mehr, ihm zu widerstehen«, keuchte sie.
Ihr Begleiter sah sie verwundert an, dann fuhr sie atemlos fort:
»Das Etwas. Es will … es verlangt, dass …«
Ihr Tonfall und ihr blasses Gesicht beunruhigten Nathan. Er ging auf sie zu, nahm ihre Hand, aber sie riss sich los und wich einen Schritt zurück.
»Es ist zu stark.«
»Du musst es aushalten, Shaé«, zwang Nathan sie. »Das ist kein Monster, das in dir lebt, sondern eine Fähigkeit, mit der du lernen musst umzugehen.«
»Was meinst du damit?«
»Du bist eine Metamorphe. In deinen Adern fließt das Blut einer der sechs Familien, von denen Barthélemy mir erzählt hat.«
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»Was hat das …«
»Du besitzt die Fähigkeit zur Verwandlung. Das ist ei-ne Stärke, Shaé, kein Fluch.«
»Aber …«
»Das erkläre ich dir später. Wir müssen uns in Sicherheit bringen, und ich sehe nur eine Möglichkeit. Komm mit.«
Nathan fand sofort die Tür zur Treppe, die in den Un-tergrund führte. Sie rannten hinunter, am Becken des großen Saals entlang und weiter in den felsigen Gang hinein.
Trotz Nathans Worten empfand Shaé das Etwas immer noch als ein fremdes Wesen, das in ihrem Innern nagte.
Ihr Herz schlug zu schnell, ihre Luft wurde knapp, und dann sah sie das gleißende Licht, das durch die Tür schien.
Sofort breitete sich Frieden in ihr aus.
Genau wie beim ersten Mal, als sie diesen Ort entdeckte, hatte sie plötzlich das Gefühl, nein, die Gewissheit, nach Hause zu kommen.
Während Nathan stehen geblieben war und die Augen zusammenkniff, um den unsichtbaren Türrahmen zu entdecken, legte sie vorsichtig die Hand auf den Türgriff.
Eine sanfte Wärme durchströmte sie, als sie die Tür öffnete und ein bläulicher Lichtschein den Flur durchflutete.
***
Als sie den ersten Raum betraten, wollte Nathan Shaé vor einem Schock bewahren und ihr die Besonderheit des 230
Ortes erklären, an dem sie sich befanden. Sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung:
»Ich kenne ihn.«
Langsam gingen sie durch die dreißig Räume bis zum großen Saal und traten hinaus auf die Terrasse. Dort verharrten sie vor dem grandiosen Schauspiel des Sonnenuntergangs, der die Wiese blutrot färbte. Hinter ihnen entfaltete das Haus seine außergewöhnliche architektonische Vielfalt. Die obersten Dachspitzen glänzten im tiefen Violett der abendlichen Wolken, während jedes der zahlreichen Fenster die unterschiedlichsten Nuancen widerspiegelte.
»Nathan … bist du es?«
Nathan und Shaé drehten sich gleichzeitig um. Vor ihnen stand Enola, die Arme vor der Brust verschränkt und das Gesicht von tiefem Entsetzen gezeichnet.
»Nathan, was ist passiert? Ich habe fürchterliche Hunde gesehen, die über die Wächter herfielen. Es gab Schüsse, Blut und … und Tote.«
Sie brach in Schluchzen aus, und Nathan konnte nicht anders, als sie ungeschickt an sich zu drücken. So an ihn angeschmiegt, weinte Enola eine ganze Weile unter den abschätzigen Blicken Shaés. Dann löste sie sich und wischte sich demonstrativ die Tränen ab. Sie ergriff Nathans Hand und schenkte ihm ein perfekt dosiertes Lächeln. In dem Moment wurde ihm klar, dass die Gefühlswallungen seiner Cousine reine Schauspielerei waren.
»Was machst du hier mit diesem Monster?«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Das sind ihre Leute, die hinter diesem Angriff stecken.«
Er schob sie mit einer brüsken Geste von sich.
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»Erzähl keinen Blödsinn!«, fuhr er sie hart an.
»Barthélemy hat selbst erkannt, dass Shaé und die Metamorphen nichts damit zu tun haben.«
Enola wich einen Schritt zurück. Sie lächelte nicht mehr.
»Du bist es, der Blödsinn erzählt! Man könnte meinen, du wärst weniger loyal, als Aimée glaubt. Wie dem auch sei, die Familie ist gewarnt, die Verstärkungen treffen bald ein. Deine Kreatur wird bekommen, was sie verdient.«
Sie ging einen Schritt auf Shaé zu und hob mit den Fingerspitzen ihr Kinn an.
»Pass mal auf, du kleines Monster! Meine Leute werden dich zermalmen, aber vorher werden sie dich …«
»Lass mich los.«
»… zum Reden bringen. Du wirst ihnen alles gestehen, was du weißt, und dann wirst du sie anflehen …«
»Lass mich los!«
»… damit sie dich töten. Du fieses kleines Monster, du
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