Das achte Tor
zulegen«, schnaubte Nathan.
»Ich hoffe nur, dass uns dort oben nicht ein Empfangskomitee der Grœne erwartet.«
Wie als Antwort auf ihre Besorgnis vernahmen sie noch mehr Stimmen, die aus dem Gefängnis unterhalb der Treppe kamen. Nathan und Shaé blieben stehen.
»Mist«, murmelte Nathan, »sie haben uns in der Zan-ge!«
»Bei Monsieur Barthélemy haben wir aufgeräumt«, er-klärte ein Mann, der offensichtlich in ein Walkie-Talkie sprach. »Er ist ernsthaft verletzt, wird aber durchkom-239
men. Hingegen keinerlei Spur von euren beiden Flüchtigen. Sie müssen noch hier unten sein. Wir werden sie einkesseln.«
Aus dem Walkie-Talkie war der typische Knisterton nach Gesprächsende zu hören und anschließend Schritte, die sich nach unten bewegten.
»Hier entlang«, flüsterte Nathan Shaé ins Ohr, »wir haben nur eine einzige Chance.«
Sie machten kehrt und glitten wie zwei Schatten in die große Halle. Die Milizionäre aus dem anderen Haus mussten jeden Moment aufkreuzen.
Nathan und Shaé konnten sich gerade noch hinter einem riesigen Holzcontainer verstecken.
»Sie werden uns finden«, keuchte Shaé, »aus diesem Raum gibt es keinen anderen Ausgang.«
»Denkst du«, antwortete Nathan. »Bist du schon mal getaucht?«
***
Die Milizionäre durchsuchten systematisch die unterirdi-schen Gewölbe. Als sie zu der Stelle kamen, wo Shaé und Nathan sich versteckt hatten, entdeckten sie nur einen noch frischen Blutfleck. Sie überlegten, ob sich die Flüchtlinge im Becken versteckt hatten. Nachdem sie mit starken Taschenlampen bis in die Tiefe hinabgeleuchtet und einige Minuten auf ein unwahrscheinliches Wieder-auftauchen gewartet hatten, verwarfen sie diese Idee.
Shaés und Nathans zurückgelassene Kleider hätten sie verraten können, aber sie lagen zwanzig Meter weiter unter einer Steinschüttung. Unauffindbar.
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Die Milizionäre mussten eingestehen, dass ihnen die Metamorphe und ihr Begleiter entkommen waren. Resigniert gaben sie die Nachricht durch. Ihr Bericht wurde skeptisch aufgenommen, und Enola erläuterte Nathans Verrat und wie er, mit Shaés Hilfe, die Grœne angelockt und den Angriff auf die Villa angezettelt habe.
Der Bericht über diese Offensive und ihre Folgen rief eine große Aufregung in der Familie hervor. In weniger als einer Stunde wurden Nathan und Shaé zu den meist-gesuchten Personen der Welt. Barthélemy, der Einzige, der sie hätte entlasten können, war in ein leichtes Koma gefallen, über dessen Ausgang die Ärzte optimistisch waren. Was Enola betraf, die andere Überlebende des Grœn-Angriffs, so war sie weiter darum bemüht, die beiden in Misskredit zu bringen, hartnäckig und erfolgreich.
Auf allen fünf Kontinenten machten sich Bataillone von Fahndern, Killern und anderen Spezialisten auf die Jagd nach den beiden.
***
Ein paar Kilometer weiter setzten Shaé und Nathan ihren Fuß auf den einsamen Strand der Île du Frioul.
Nachdem sie ihre Sauerstoffflaschen, Flossen und Tauchanzüge abgelegt hatten, standen sie barfuß und im T-Shirt da. Ihnen war eiskalt.
Nathan zögerte kurz und bot dann Shaé an, ihr den Rücken zu frottieren. Der Blick, mit dem sie darauf reagierte, machte ihm klar, dass das überhaupt nicht in Frage kam. Also hüpften sie auf der Stelle und schlugen 241
mit den Armen um sich, damit das Blut in ihren Adern wieder in Bewegung kam. Anschließend erholten sie sich von den Strapazen im Schutz eines Felsens in der winter-lichen Sonne, die nur schwache Strahlen warf.
Eine erfüllte Stille breitete sich aus, die keiner von beiden unterbrechen wollte.
Sie fühlten sich gut.
Nathan hätte sich gewünscht, dass Shaé ihren Kopf an seine Schulter lehnte. Mit geschlossenen Augen träumte er davon.
Sie bewegten sich nicht.
Nach einer ganzen Weile begann er stockend zu reden.
»Ich verstehe nichts. Ich weiß nicht, wer ich bin, und noch weniger, wer du bist. Wer sind diese Mächte, diese Familien, diese Kreaturen? Ich weiß nur, dass … dass ich noch nie so glücklich war.«
Verborgen hinter ihrer langen schwarzen Mähne, lä-
chelte Shaé. Ihr Herz schlug so laut, so schön und so echt, dass sie das Gefühl hatte, im nächsten Moment sterben zu müssen.
Nathan wollte mit seinen Erklärungen fortfahren, doch Shaé streckte ihre Hand aus und legte einen Finger an seine Lippen, um ihm zu bedeuten, nicht weiterzuspre-chen. Er hätte den Finger gerne berührt. Wie eine Blume berührt. Und ihn geküsst.
Sie zog ihre Hand zurück.
Ihr war nicht
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