Das achte Tor
mehr kalt. Eine sanfte Wärme war in ihr aufgestiegen, entfacht durch das Versprechen der Küsse, das sie in Nathans Augen gelesen hatte, und durch die Kraft, die sie zu ihm trieb. Sie hob den Kopf, ihre Blicke 242
begegneten sich. Sie waren so voller Harmonie, dass beide dasselbe Schaudern überlief.
Eine Stimme über ihnen ließ sie zusammenzucken.
»Lasst euch nur Zeit, ihr jungen Leute, ich warte mit dem Boot in der kleinen Bucht nebenan.«
Rafis Silhouette zeichnete sich gegen den klaren Mit-tagshimmel ab. Er gab ihnen ein Handzeichen, bevor er hinter einem Felsen verschwand.
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SIEBEN FAMILIEN
1
ir steigen nicht in dieses Boot, bevor du uns nicht W gesagt hast, wer du bist und welche Rolle du in dieser Geschichte spielst!«
Nathan hatte sich vor Rafi aufgebaut, die Hände in die Hüften gestemmt, und forderte ihn mit seinen Worten und seinem Blick heraus. Das Du, das ihm herausge-rutscht war, zeigte jedoch, dass er weitaus weniger verär-gert war, als er glauben machen wollte.
Ohne aus der Fassung zu geraten, zwinkerte ihm der alte Mann zu und wandte sich an Shaé.
»Die Kogisten haben selten einen guten Charakter«, bemerkte er mit einem fatalistischen Schulterzucken.
Shaé lächelte nicht.
»Wenn du nicht redest, lernst du vielleicht bald unter Wasser zu atmen«, drohte sie.
Aus ihrem Mund klang das Du hart.
Rafi gab einen langen Pfeifton von sich.
»Da ich als Säugetier nicht mit Kiemen ausgestattet bin, fürchte ich, dass ich zu solch einer Heldentat nicht tauge«, antwortete er nach kurzem Zögern. »Jedoch gehe ich davon aus, dass deine Worte in Wirklichkeit als Drohung zu verstehen sind. In diesem Fall erinnere ich dich daran, dass ich von Geburt an gewaltfrei bin – für die vorhergehende Periode kann ich das nicht garantieren.
Durch eine Misshandlung würdest du mir großen 247
Schmerz zufügen, ohne dabei mehr zu erreichen als das, wozu ich offenkundig bereit bin: dir meine Freundschaft zu gewähren.«
»Kannst du nicht mal normal reden?«, fauchte Shaé.
»Ich bin bereit, alle eure Fragen zu beantworten«, er-klärte Rafi und setzte sich auf einen Felsen. »Na ja … fast alle.«
»Wer bist du?«, bohrte Nathan energisch nach.
»Mein Name ist Rafi Hâdy Mamnoun Abdul-Salâm aber die meisten Leute, die mich kennen, nennen mich Rafi. Ich habe nie verstanden, weshalb. Wahrscheinlich glauben sie …«
»Haiti«, befahl Shaé. »Wir sind gerade einem Miliz-kommando, einer Horde von Monsterhunden und einem unverwundbaren Koloss entkommen. Mach dich nicht über uns lustig!«
»Jaalab.«
»Was? Was hast du gesagt?«
»Ich habe gesagt: Jaalab. So heißt der Koloss, von dem du sprichst und der im Übrigen nicht so unverwundbar ist, wie du glaubst.«
»Immerhin hat er eine Gewehrkugel überlebt, die aus nächster Nähe abgefeuert wurde!«
»Jaalab ist ein Teil des Anderen«, fuhr Rafi fort, ohne auf den Einwurf einzugehen. »Seine Kraft.«
Nathan sah zu Shaé hinüber. Als er sicher war, dass sie sich beruhigt hatte, setzte er sich Rafi gegenüber und blickte ihm tief in die Augen.
»Befinden wir uns in Gefahr?«
»Nicht in diesem Augenblick.«
»Dann musst du uns alles erzählen. Von Anfang an.«
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Rafi schenkte ihm ein breites Lächeln, und seine unglaublich blauen Augen leuchteten dabei auf.
»Welchen Anfang meinst du?«
»Seit den Familien natürlich.«
***
Viertausendfünfhundert Jahre vor unserer Zeit.
Der Mensch ist sesshaft geworden. Er betreibt Vieh-zucht, baut Getreide an und verfügt über eine Menge Werkzeuge und Instrumente, die ihm das Leben erleichtern, hat jedoch noch keine Kenntnisse über Metallurgie und lebt in kleinen Gemeinschaften.
Ungefähr zu dieser Zeit entsteht die erste wirkliche Zivilisation. Aus dem Nordosten des heutigen Indien kommend, lässt sich eine große Gruppe von Männern und Frauen in der fruchtbaren Ebene Mesopotamiens, dem Land zwischen Euphrat und Tigris, nieder. Die Sumerer.
Sie sind geschickte Handwerker und bearbeiten Kupfer, Bronze, Gold und sogar Edelsteine. Sie entwickeln die Töpferscheibe, die Navigation auf den Flüssen und bauen die ersten Städte: Ur, Uruk, Lagasch oder Eridu.
Es bildet sich eine komplexe Gesellschaft heraus, bestehend aus unterschiedlichen Klassen, von denen jede eine besondere Funktion besitzt: Priester, Beamte, Handwerker, Sklaven.
Europa befindet sich zu jener Zeit immer noch im Sta-dium der Neusteinzeit. Aus dieser Periode stammen die ersten Schriftzeichen, Tontafeln mit
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