Das achte Tor
sagte Shaé. »Ohne 255
dich sind es nur sechs Familien und nicht sieben. Wie sollen wir es dann schaffen?«
Rafis Miene wurde ernst.
»Ich habe niemals behauptet, ihr würdet es schaffen.«
Shaé fuhr hoch, machte den Mund auf, um einen Fluch auszustoßen, besann sich jedoch und schwieg. Sie wandte sich an Nathan, auf der Suche nach Unterstützung. Er breitete ohnmächtig die Hände auseinander.
»Du wirst uns führen«, fragte er Rafi, »uns erklären, was wir zu tun haben?«
»Ich habe euch alles offenbart, was ihr wissen müsst«, erwiderte der alte Berber. »Ich kann nur noch hinzufü-
gen, dass dein Onkel Barthélemy, auch wenn er sich in einem kritischen Zustand befindet, sehr wohl Jaalab besiegte, der sich daraufhin zurückzog, um seine Unver-sehrtheit wiederzuerlangen. Natürlich wird ihm das gelingen und er wird bald wiederkommen, um seine Aufgabe zu erledigen. Aber Barthélemy hat dir auf seine Weise den Weg gewiesen.«
Rafi erhob sich und wollte sich zum Gehen wenden.
»Warte!«, schrie Nathan ihn an. »Du kannst uns nicht so alleine lassen.«
»Ich kann es nicht nur, ich muss es sogar«, antwortete Rafi. »Ich spiele keine Rolle in dem Stück, das jetzt kommt. Meine wird später kommen. Vielleicht.«
Und als wäre es ihm unmöglich, die beiden in pessimi-stischer Stimmung zurückzulassen, schenkte er ihnen ein vertrauensvolles Lächeln.
»Ihr werdet das sicherlich gut durchstehen, ihr Jungen.
Der Andere weiß noch nicht, mit wem er es da auf-nimmt!«
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Mit ein paar flinken Bewegungen kletterte er den Felsen hinauf.
»Hütet euch vor dunklen Wegen, meine Freunde.« Er sprang über die Kuppe und verschwand.
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chuhe und warme Kleider lagen im Boot für sie be-S reit. Nathan und Shaé zogen sich schweigend an und stiegen an Bord. Nathan strich mit der Hand zerstreut über den Motor. Er sträubte sich, ihn anzuwerfen, als würde dieser Akt ihr Schicksal besiegeln.
»Was machen wir?«, fragte er schließlich.
»Ich habe das Gefühl, dass wir keine Wahl haben«, antwortete Shaé.
»Das heißt?«
»Wir müssen den Anderen eliminieren. Das hat Rafi klipp und klar gesagt. Also nehmen wir uns als Erstes diesen Typen vor, der seine Kraft verkörpert.«
»Jaalab?«
»Genau.«
»Genial! Ich bin wirklich blöd, dass ich nicht darauf gekommen bin! Ähm … Shaé? Wie stellen wir das an?«
»Wie wir ihn fertigmachen?«
»Ja.«
Sie lächelte ihn an. Das erste richtige Lächeln, das sie ihm schenkte. So zärtlich, dass er das Gefühl hatte, zu zerschmelzen.
»Du bist der Kogist, Nat. Es ist dein Job, nachzudenken und Lösungen zu finden. Ich bin nur eine arme Metamorphe, die sich nicht einmal das Tier aussuchen kann, in das sie sich verwandelt.«
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»Du bist mehr als das, Shaé. Viel mehr als das, obwohl deine Verwandlung in einen Panther ziemlich beeindruckend ist.«
»Ach ja?«
»Du bist eine Heilerin. Vergiss nicht, dass ich mit eigenen Augen gesehen habe, wie eine tödliche Kugel aus deinem Körper gerollt ist, während sich die grässliche Wunde wieder schloss, als hätte es sie nie gegeben.«
»Angenehm war das trotzdem nicht.«
»Aber das ist noch nicht alles«, fuhr Nathan fort. »Ich bin Kogist, und ich bin auch Mnemiker, wie meine Mutter. Und wenn ich mich daran erinnere, wie ich das Motorrad gestartet habe, um deine Entführer zu verfolgen, dann muss ich glauben, dass in meinen Adern auch Blut der Scholiasten fließt. Das bedeutet wiederum, dass du eine Baumeisterin bist.«
»Es sei denn, Rafi hätte Mist erzählt!«
Aber davon schien Shaé kein bisschen überzeugt.
Sie erinnerte sich nur zu gut an ihre Gefühle, als sie die Schwelle zum Haus im Irgendwo betreten hatte.
Dort war sie zuhause, daran gab es gar keinen Zweifel.
Und in ihr pochte das unwiderstehliche Verlangen, dorthin zurückzukehren, durch jeden Raum zu laufen und durch jeden Flur. Dort zu leben.
Nathan irrte sich nicht.
»Du bist eine Baumeisterin, Shaé. Rafi weiß, wovon er spricht.«
»Sehr gut, großer Chef-Kogist! Und was ist eine Baumeisterin?«
»Das werden wir in Valenciennes erfahren. Das und noch einige andere Dinge.«
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»In Valenciennes?«
»Ja. Mein Großvater hat eine Spezialabteilung der Bibliothek von Valenciennes erwähnt, in der Hinweise zur Geschichte der Familien aufbewahrt werden. Und Barthélemy hat mir empfohlen, dort nach Antworten zu suchen. Da wir keinen anderen Anhaltspunkt haben, schlage ich vor, dort zu beginnen.«
»Warum nicht«, antwortete Shaé.
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