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Das achte Tor

Das achte Tor

Titel: Das achte Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: bottero
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menschlichen Wesens anzunehmen. Sie lässt die Antilopen und blass schim-mernden Gazellen links liegen und würdigt auch die Flusspferde und Nashörner keines Blickes, denn sie sind viel zu groß, um interessant zu sein.
    Sie geht einfach weiter und denkt nicht über den Ort 267

    nach, an dem sie sich befindet, und auch nicht über das Motiv ihres Besuchs.
    Sie denkt an Nathan.
    Seine Haut, seine Stimme, sein Blick, wenn er sie ansieht und nicht weiß, dass sie ihn beobachtet …
    Shaé fühlt sich wohl. Wie unter einer Glocke, isoliert, aber bequem. Vergessen sind das Grau des Zoos, der Beton und die spürbare Not der Tiere in Gefangenschaft.
    Ihre Glocke ist eine große bunte Seifenblase voller Har-monien, die sich miteinander verbinden, tanzen und …
    Flash!
    Shaé bleibt abrupt stehen.
    Vor zwei gelben Augen mit vertikalen Pupillen. Zwei gelbe Augen, die starr auf sie gerichtet sind und sie beobachten. Die Stück für Stück ihre Seele durchdringen.
    Ein Tiger.
    Shaé packt die Gitterstäbe des Käfigs und gleitet langsam zu Boden. Sie stöhnt. Ihr Körper ist zu Lava geworden, Gefühle und Emotionen brodeln in ihr, verschmel-zen zu einer neuen Alchimie. Schmerzhaft und neu.
    ›Wer bist du?‹
    Die Worte hallen in ihrem Kopf, ohne dass sie genau weiß, woher sie kommen. Der Tiger!
    ›Wer bist du?‹
    Die Frage klingt wie ein Befehl. Der Tiger. Seine Augen. Wie zwei reflektierende Spiegel, die ihr Fragen stellen. Und ihr dabei ihren Weg weisen.
    »Ich … ich weiß nicht!«
    ›Finde es heraus!‹

    ***

    268

    Später, sehr viel später steht Shaé wieder auf. Eine junge Frau mit einem Kinderwagen macht einen großen Bogen um sie. Zwei kleine Mädchen zeigen mit dem Finger auf sie und knuffen sich scherzhaft in die Seite. Der Tiger sieht sie immer noch an.

    Das erste Gefühl ist Durst.
    Ein wahnsinniger Durst. Schrecklich.
    Dann verschwindet der Durst. Wie durch Magie.
    In diesem Moment keimt ein zweites Gefühl in ihr. Es bringt sie vollkommen durcheinander. Sie hört den Atem der Hyäne nicht mehr.
    Das Etwas ist verschwunden.
    An seiner Stelle bleibt eine verschwommene Leere zu-rück, die sich langsam in nichts auflöst. Endlich.

    Da überkommt sie das dritte Gefühl. Eine Gewissheit.
    Die nach einer sofortigen Überprüfung verlangt.
    ›Ich kann es‹, sagt sich Shaé. ›Wann ich will und wie ich will. Ich habe die Macht.‹
    Und schon springt sie.
    Sie bestimmt selbst den Moment, in dem sie sich verwandelt. Sie wird zum schwarzen Panther. Ihr kräftiger Körper fliegt mühelos über den Zaun und landet ge-räuschlos neben dem unbeweglichen Tiger.

    ***

    Ein Zoo in Paris.
    Eine Mutter und zwei Mädchen sind staunende Zeugen einer unglaublichen Szene. Ein junges Mädchen mit 269

    langen schwarzen Haaren kniet neben einem Tiger, der sechsmal schwerer ist als sie. Sie hat ihren Kopf an seine mächtige Schulter gelehnt, als wolle sie sich bei ihm bedanken. Er belohnt sie dafür mit einem rätselhaften Blick, den man dennoch als zärtlich bezeichnen könnte.
    Sie verstehen nicht, wie das Mädchen über den Zaun gelangt ist, aber das ist überhaupt nicht wichtig. Wenn sie das Personal alarmieren werden, wird das Mädchen schon wieder weg sein. Niemand wird ihnen glauben.

    270

6
    ei Einbruch der Dämmerung trafen sie sich am Tro-B cadero. Als Nathan, der als Erster da war, Shaé sah, erhob er sich von seiner Bank und ging ihr zwei Schritte entgegen. Das letzte Stück rannte sie.
    Das Etwas war von ihr gewichen.
    Sie war frei.
    Sie konnte sich in Nathans Arme werfen.
    Sie konnte ihn küssen.
    Sie konnte …
    Doch einen Meter vor ihm blieb sie plötzlich stehen.
    Näher war unmöglich. Die Vorstellung, er könnte sie berühren, ekelte sie plötzlich an. Sie hätte sich wahnsinnig gern an ihn geschmiegt, aber sie ertrug den Gedanken nicht, dass ihre Haut seine berührte.
    Es schlug ihr auf den Magen.
    Das Etwas war zwar vielleicht verschwunden, aber seine Spuren waren noch da. Despotisch. Sie hätte heulen können. Vor Wut, vor Enttäuschung, vor Not. Sie zwang sich, die Strähne, die ihr ins Gesicht hing, nach hinten zu werfen. Die Erinnerung an das Etwas verbarrikadierte ihren Körper, ihr Blick war unsicher.
    »Wie war’s?«, fragte sie.
    Nathan hatte ihre Seelennot nicht bemerkt. Auf der Bank lag ein Gegenstand von ungefähr einem Meter Länge, eingewickelt in eine Hülle aus schwarzer Seide. Er 271

    hob ihn auf und reichte ihn Shaé. Sie nahm ihn, wog ihn in ihrer Hand und löste dann die Kordel, mit

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