Das achte Tor
aufzudecken, so dass ihre Gewissheiten ins Wanken geraten.
›Wer zu wissen glaubt, lernt nicht mehr.‹
Nicht eine Sekunde hat er dabei den Unbekannten auf der Bank aus den Augen gelassen.
263
Sensei Kamata hat nie zuvor eine solche Konzentration erlebt. Er nimmt die Aura der Leute wahr, was sie anbieten, was sie nehmen – Kamata fühlt sich von den Augen des jungen Mannes förmlich aufgesogen. Ihm wird fast schwindlig von der Art, wie er ihn ansieht. Durchdringend.
Randori. Freier Kampf.
Meister Kamata kämpft eins zu eins gegen einen Schü-
ler, dann gegen zwei, gegen drei … Sein Schwert schwirrt mit der Leichtigkeit einer Feder durch die Luft, in einer faszinierenden Kombination aus tödlicher Präzision und ätherischer Anmut. Jede seiner Bewegungen harmoniert perfekt mit den Bewegungen seiner Gegner und ihren Absichten.
Der junge Unbekannte beobachtet. Gefesselt.
Ist es Müdigkeit? Wut? Einer der Schüler holt zu einem heimtückischen Schlag gegen den Meister aus. Ein gefährlicher Schlag. Sensei Kamata wehrt ihn ab und schlägt zurück. Mit der flachen Hand. Mitten auf die Brust. Der Schüler, der die Kontrolle über sich verloren hat, wird quer durch das Dojo geschleudert. Zu Füßen des jungen Unbekannten bricht er zusammen.
Der sieht ihn an. Streng.
Drei Stunden Kampf, Erklärungen, Korrekturen. Das Sirren der Schwerter, Keuchen, Angriffe, Paraden, Fin-ten. Immer und immer wieder.
Der Kurs ist beendet.
Die Schüler und der Meister verneigen sich. Die Schü-
ler danken. Sie verlassen das Dojo und sind leer. Keine Kraft, kein Wissen, keine Gewissheit.
Bereit zu lernen.
264
Sensei Kamata wendet sich dem jungen Unbekannten zu. Er weiß, was geschehen wird, und zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren, seit er auf einen richtigen Schü-
ler wartet, ändern sich die Schwingungen seines Qi.
Unmerklich.
Nathan betritt barfuß die Tatamimatten.
Respektvoll ergreift er das Langschwert, Katana, das ihm Sensei Kamata reicht.
»Domo arigato«, sagen sie gemeinsam. Vielen Dank.
Nathan nimmt die Grundhaltung ein.
Ein neues und flammendes Wissen fließt durch seine Adern.
Eröffnung und Harmonie.
265
5
haé streunt zwischen den Gehegen umher.
S Der heruntergekommene Zoo verbreitet ein unbeschreibliches Gefühl von Trostlosigkeit.
Alles grau in grau.
Angefangen bei diesem berühmten Felsen aus Beton, der fünfundsechzig Meter in die Höhe ragt und den Stolz des ganzen Zoos darstellt. Wie kann man nur eine Sekunde lang glauben, ein Mufflon oder Markhor, die in seiner Umgebung in Gefangenschaft leben, hielten ihn für einen Felsen aus ihrer Kindheit? Oder einen Felsen ihrer Ahnen?
Shaé schaut ihn sich dennoch an, wirft einen Blick auf die Schilder, die in mehreren Sprachen die architektonische Großtat seiner Konstruktion erläutern, und verlässt ihn schnell wieder.
Immer diese Angst vor geschlossenen Räumen.
Und sie ist nur ein Mensch.
Eine Metamorphe, aber ein Mensch.
Sie denkt nach über die Angst der Tiere. Als Gefangene kennen sie nur Raum und Freiheit. Angst nützt nichts.
Niemals.
Ihr ist zum Heulen zumute.
Sie reißt sich zusammen, läuft am Elefantengehege vorbei, auch hier ist alles grau. Dann ist sie bei den Giraf-fen. Ein paar karge Bäume wachsen dort immerhin, Blu-266
menornamente sind neben Büschen angelegt und hübsche Brücken aus Holz überspannen plätschernde Was-serläufe in ihrem Betonbett.
Sie sucht die Käfige der Hyänen.
Sie will wissen, wie das Etwas aussah, bevor Nathan in ihr Leben trat.
Hier gibt es keine Hyänen.
Insgeheim ist Shaé froh darüber. Weil man das Etwas nicht hinter Gitter sperrt.
Sie weiß, weil sie sich am Eingang danach erkundigt hat, dass sie hier auch keinen Panther findet, erst recht keinen schwarzen. Das ist ein Augenzwinkern des Schicksals, die Grenzen des Zoos: Man sperrt nur ein, was sich einsperren lässt.
Trotzdem folgt sie weiter den Schildern, die sie zum Gehege der Geparden führen. Der Gepard ist schließlich ein Vetter des Panthers. Kleiner, feiner, weniger wild, aber dennoch ein Vetter. Das Gehege ist leer. Der letzte Gepard wurde 2003 nach Lissabon gebracht …
Shaé muss beinahe lachen. Sie ist hergekommen, um nach Antworten zu suchen, und findet nichts.
Sie geht wieder zu dem großen, hohen und grauen Felsen. Eigentlich sollten an seinem Fuß die Raubtiere leben. Sie wirft einen verächtlichen Blick auf die Affen.
Niemals würde sich das Etwas dazu herablassen, die Form einer dieser Parodien eines
Weitere Kostenlose Bücher