Das achte Tor
»Das letzte Mal, als ich eine Bibliothek von innen sah, war ich sieben Jahre alt. Ich hatte Angst vor den Büchern und vielleicht noch mehr vor der Bibliothekarin.«
Sie brach in Gelächter aus und klang ganz anders als die Shaé, die Nathan kannte. Er sah sie erstaunt an.
»Warum starrst du mich so an?«, wunderte sie sich.
»Habe ich eine Warze auf der Nase?«
Sie strahlte. Als wäre ein Schleier, der ihr wahres Wesen verdeckte, plötzlich weggerissen worden. Endlich konnte sie strahlen.
»Du … du bist schön.«
Sie hörte auf zu lachen.
Und blickte ihm mitten ins Herz.
»Nein, Nat. Ich bin glücklich.«
***
Die Sonne ging hinter dem Horizont unter, als sie die Insel verließen. Die Überfahrt dauerte nur zwanzig Minuten, und sie ließen das Boot in einem kleinen Fischer-hafen im Westen Marseilles zurück.
Sie hatten sich zum Handeln entschieden. Die erste Etappe ihres Plans führte sie nach Paris.
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»Warum?«, hatte Shaé gefragt.
»Weil wir Waffen benötigen.«
»Du willst Waffen kaufen? Bist du verrückt?«
»Wir kaufen gar nichts. Hör zu …«
Nathan erläuterte ihr sein Vorhaben, und sie stimmte ihm zu. Überzeugt.
Da die Familie sicherlich Bahnhöfe und Flughäfen überwachen ließ, beschlossen sie, ein anderes Verkehrs-mittel als Bahn oder Flugzeug zu wählen. Sie liefen bis zu einer Hauptverkehrsstraße, stellten sich an den Rand-streifen und hoben den Daumen. Trotz Einbruch der Dämmerung und der verschiedenen dramatischen Berichte in den Zeitungen hielt der erste Lastwagenfahrer, der sie sah, mit seinem 38-Tonner ohne zu zögern an.
Hätte man ihn nach seinen Gründen für dieses ungewöhnliche Wohlwollen gefragt, so hätte er geantwortet, dass diese beiden jungen Leute ein so helles Licht aus-strahlten, dass er nicht umhinkonnte, sie mitzunehmen.
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eister Kamata wirft einen durchdringenden Blick M auf die zwölf Schüler, die im Seiza vor ihm sitzen und ihre Katanas sorgfältig neben sich abgelegt haben.
Zwölf Schüler, die aus allen Himmelsrichtungen zu einem exklusiven Kurs für die Elite der Kampfkunstschüler gekommen sind. Vier von ihnen sind Aikidoka, Meister Kamata erkennt sie an der Tiefe ihrer Atmung. Vier von ihnen haben sich für Kenjutsu, den traditionellen Schwertkampf, entschieden. Zwei sind Schüler des viet-namesischen Qwan Ki Do und zwei weitere kommen vom Yoseikan Budo beziehungsweise vom Iaido.
Eine heterogene Gruppe, wie er sie liebt, zusammen-gesetzt aus erfahrenen Kämpfern, denen er die Nutzlo-sigkeit des Schulkonzepts demonstrieren wird. Für ihn, der seit über vierzig Jahren den Weg des Schwertkampfs lehrt, existiert keine Schule, für ihn zählen nur die Eröffnung und die Harmonie.
Paradoxerweise erklären viele Schulen dies zu ihren Prinzipien, leben sie aber nicht.
Der Blick des Sensei streift den jungen Mann, der auf einer Bank links neben den Tatamimatten sitzt. Meister Kamata duldet niemals Zuschauer während eines Kurses.
Das gewährleistet Ruhe und gibt ihm die Gewissheit, dass sein Unterricht vertraulich bleibt. Er hat seine Schü-
ler immer ausgewählt, ihre Zahl, den Ort, die Kursform, 262
ohne jemals einem Druck nachzugeben, welchem auch immer. Und er hat keinerlei Absichten, dies zu ändern.
Bei diesem Jungen hat er eine Ausnahme gemacht.
Zunächst, weil er ihn in perfektem Japanisch und unter Wahrung der traditionellen Höflichkeitsformen darum gebeten hat, und vor allem wegen seiner ganz besonderen Ausstrahlung. Der Junge ist kein Kämpfer, da ist er sich beinahe sicher, aber dieses ›beinahe‹ weckt sein Interesse, ebenso seine Art sich zu bewegen: weich, präzise, entspannt … Er möchte mehr darüber erfahren.
Begrüßung. Eine Verbeugung auf den Tatamimatten, wobei Hände und Stirn den Boden berühren.
Totale Aufmerksamkeit und Konzentration.
Der Kurs beginnt. Meister Kamata bedeutet einem Schüler, sich zu erheben. Er knüpft die Scheide seines Schwerts vom Gürtel seines Keikogis los und nimmt seine Grundhaltung ein … Schon hat der Sensei angegriffen. Die Schneide des Katana, tausendmal schärfer als eine Rasierklinge, stoppt einen Millimeter vor der Kehle des Schülers, der erbleicht. Fünfter Dan im Ken-Jutsu, aber den Schlag hat er nicht kommen sehen.
Sensei Kamata gibt eine kurze Erklärung auf Japanisch.
Der Kurs geht weiter.
Der Meister unterzieht seine Schüler einer harten Prü-
fung. Es bereitet ihm ein teuflisches Vergnügen, sie in heikle Situationen zu bringen, ihre Fehler gnadenlos
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