Das Aion - Kinder der Sonne
zeigten wie Wegweiser zwei spitz zulaufende Hörner zur gegenüberliegenden Häuserfront. Nichts regte sich, kein Laut war zu hören.
»Das ist alles?«, fragte Jiril und starrte die Statue sichtlich enttäuscht an. »Da ist ja jeder Glücksbrunnen aufregender.«
Mira schaute angestrengt hinüber zur Treppenflucht auf der Ostseite des Platzes, in der Hoffnung, durch die schmale Lücke in den Häuserfronten einen Blick auf den Weltenbaum werfen zu können, doch die anschließenden Gebäude waren zu hoch und versperrten die Sicht.
Als ihr Blick erneut auf die Statue fiel, bemerkte sie, dass die Figur bewegt worden war. Von wem oder was, blieb Mira ein Rätsel, denn nach wie vor war außer der in Lumpen gekleideten Alten, Jiril und ihr selbst keine Menschenseele auf dem Platz zu sehen. Dennoch blickte die Statue nun genau zu ihnen hinüber. Vielleicht stellte sie eine Uhr dar, die ein verborgener Mechanismus unter dem Platz zum Rotieren brachte, überlegte Mira. Oder sie war auf Kugeln oder auf einem Wasserpolster gelagert, um sich mit dem Wind zu drehen.
Aber es ging kein Wind. Nicht das leiseste Lüftchen regte sich. Wer oder was auch immer die Statue gedreht hatte, musste die Umgebung beobachten können. Mira hatte das Gefühl, die Steinfigur starre sie direkt an.
»Nun, junge Dame, gibt es etwas, was du wissen möchtest?«, säuselte die vermummte Alte. »Das Orakel wird es dir beantworten.«
Mira tauschte einen vieldeutigen Blick mit Jiril. Der zuckte nur mit den Achseln. »Am vernünftigsten wäre es, du kümmerst dich nicht weiter darum«, war alles, was ihm dazu einfiel. »Lass uns wieder in die Unterstadt gehen, wir haben genug Zeit vertrödelt. Das hier riecht nach dem üblichen faulen Zauber.«
»Aber wer hat die Statue bewegt?«, wunderte sich Mira.
Die Alte kicherte. »Das Orakel bewegt sich von selbst, mein Kind.« Sie legte einen Arm um Miras Schultern und schob das Mädchen ein paar Schritte auf den niedrigen, äußeren Steinkreis zu. »Komm, bevor es das Interesse an dir verliert«, raunte sie.
»Interesse?« Mira starrte die Statue an. »Soll das heißen, dieses hässliche … Ding ist lebendig?«, fragte sie skeptisch.
»Abgesehen von uns dreien ist hier oben gar nichts lebendig«, mischte sich Jiril ein und stellte sich Mira und der vermummten Alten in den Weg. »Lass uns gehen.« Er zog das Mädchen von ihrer zwielichtigen Fremdenführerin fort.
»Nein, warte!« Mira blickte an Jiril vorbei auf die unverwandt zu ihr herüberblickende Steinfigur. »Sie hat sich bewegt!«
»Unsinn.«
»Ich habe es gesehen!«
Jiril schaute abwechselnd zwischen dem Orakel und Mira hin und her, in deren Augen eine Mischung aus Abscheu und Faszination lag. »Na schön, schauen wir’s uns an«, schnaufte er ergeben.
»Keine Sorge, es ist völlig harmlos«, kicherte die Alte. »Potthässlich, aber ungefährlich.«
Mira betrachtete den riesigen mondförmigen Kopf der Steinfigur. »Wie viele Fragen darf ich ihm stellen?«
»Traditionell eine«, erklärte die Alte. »Für einen bescheidenen Obulus könnte ich eventuell noch eine zweite erwirken.«
Jiril schüttelte den Kopf, schwieg jedoch.
»Na ja …«, überlegte Mira. »Sind seine Antworten zuverlässig?«
»Selbstverständlich!«, beeilte sich die Alte zu versichern. »Bei meiner Ehre.«
Jiril schnaubte abfällig durch die Nase. »Die Ehre der Diebe, Gauner und Vagabunden.«
»Was auch immer«, wiegelte die Bettlerin ab. Sie führte Mira und Jiril an den Rand des äußeren Steinkreises, schwieg einen Moment lang andächtig und murmelte schließlich etwas Unwiederholbares, das sich anhörte wie »Rabaukeräuscherlrabatz«.
Mira betrachtete den Boden, auf dem die Statue stand, in der Hoffnung, doch noch so etwas wie einen versteckten Mechanismus zu erkennen. Eine Steinplatte, die sich drehen ließ, oder Führungsschienen, über die die Figur über den Platz bewegt werden konnte. Einige Atemzüge lang passierte gar nichts, dann drang aus dem leicht geöffneten Mund der Statue ein tiefer, lang gezogener Ton, der klang wie das Dröhnen eines Nebelhorns. Ihre Stimme ließ den Boden vibrieren und Mira und Jiril erschrocken ein paar Schritte zurücktreten. Die monströse Steinfigur hatte ihren Kopf leicht zur Seite geneigt und fixierte das Mädchen mit ihren riesigen, nun rot glühenden Augen.
»Die Kostgängerin des Magistraten wünscht Einweihung!«, brüllte die vermummte Alte die Statue an.
»Warum schreit sie so?«, flüsterte Mira.
Jiril machte
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