Das Aion - Kinder der Sonne
Obstschale platziert hatte. In ihr befanden sich weitere, immer kleinere Gerüste und Gefäße. In der größten Schale lag ein Würfel, der eine zweite, wesentlich kleinere Schale umschloss. Darin ruhte eine dreiseitige Pyramide. In dieser wiederum eine noch kleinere Schale und in ihr ein Mira völlig unbekanntes Gebilde, das aus vielen kleinen Dreiecken zusammengesetzt war. Immer kleiner wurden die Gefäße und Körper, und aus ihrem Zentrum, so bildete Mira sich ein, starrte sie – verborgen hinter unzähligen Strichen – ein winziges Auge an. Es betrachte sie mit dem Ausdruck eines Kobolds, der überrascht war, in seinem Versteck aufgespürt worden zu sein.
Das Mädchen blinzelte verwirrt und das Auge verschwand.
»Was ist das?«, fragte sie Bausch, der sich ihr gegenüber in einen der Sessel gelümmelt hatte und ganz offensichtlich mit dem Schlaf kämpfte.
Der alte Mann reckte den Hals. »Eine stilisierte Armillarsphäre«, erklärte er. »Ein antikes astronomisches Messgerät.«
Unter der Zeichnung stand ein verblasster Text. Mira musste sich anstrengen, um ihn zu entziffern.
Würfel = Erde, las sie, Tetraeder = Feuer, Oktaeder = Luft, Ikosaeder = Wasser. Dem Universum entspricht der fünfte platonische Körper, das Dodekaeder.
Erneut betrachtete Mira die Zeichnung und verglich sie mit dem Sinngehalt des Textes. »Was ist das für ein Buch?«, fragte sie.
»Ein sehr, sehr altes, Prinzessin«, murmelte Bausch und knetete seine geschlossenen Augen. »Es wurde Jahrhunderte vor den Sonnenstürmen geschrieben. Sei vorsichtig, wenn du darin blätterst.«
Mira warf einen ehrfürchtigen Blick auf die vergilbten Seiten. »Die Sphäre der Erde«, begann sie stockend zu lesen, »ist das Maß für alle anderen Bahnen. Umschreibe sie mit einem Dodekaeder. Die es umspannende Sphäre ist der Mars. Seine Bahn umschreibe mit einem Tetraeder. Die es umspannende Sphäre ist der Jupiter. Die Bahn Jupiters umschreibe mit einem Würfel. Die ihn umspannende Sphäre ist der Saturn. Nun lege in die Erde ein Ikosaeder. Die ihm innewohnende Sphäre ist die Venus. In die Venusbahn lege ein Oktaeder, die ihm innewohnende Sphäre ist der Merkur.« Mira hielt verwirrt inne und las die Überschrift des Kapitels.
Verknüpfung des Himmelsaufbaus mit den Harmonien der diatonischen Tonleiter
»Du meine Güte, Bausch, verstehst du, was das heißen soll?«
Der alte Mann erzeugte ein undefinierbares Grunzen und schien mit den auf dem Tisch verteilten Flaschen ein »Raus bist du«-Spiel angefangen zu haben.
»Was ist eine diatonische Tonleiter?«, fragte Mira.
»Das würdest du sowieso nicht verstehen, Prinzessin.« Bausch stand auf und nahm Mira das Buch ab. Er klappte es vorsichtig zu und ging mit ihm zu einem der vielen, bis zur Decke reichenden Regale, wo er es in eine Lücke schob. Das Mädchen bildete sich ein, ein zufriedenes Schmatzen der angrenzenden Bücher zu vernehmen, als sie ihren Artgenossen wieder in ihren Reihen fühlten.
In Bauschs Regalen reihten sich weitaus seltsamere Bücher mit noch eigentümlicheren Titeln Rücken an Rücken aneinander. Manchmal glaubte Mira fast, dass einige von ihnen verzaubert waren und sich in einer uralten, geheimnisvollen Sprache miteinander unterhielten. Einer Sprache, die aus leisem Rascheln und Knacken bestand. Ab und zu hatte Mira sich staunend in Bauschs Wohnung umgesehen und war auf Werke wie das eines gewissen Chandra Wickramasinghe mit dem Namen Die Lebenswolke gestoßen, oder die Astronomischen Briefe von Tycho Brahe. Einige der Bücher hatten ihr besonderes Interesse geweckt, da Bausch ständig bemüht war, sie vor Miras neugierigen Händen und Blicken zu verstecken. Bücher mit Titeln wie Das Buch der Verdammten oder Die brennende Welt.
Der alte Mann setzte sich zurück in seinen Sessel und leckte sich nervös über die Lippen. »Sag mal, Prinzessin, du bist doch wohl nicht nur gekommen, um herumzuschnüffeln, oder?«
»Nein.«
»Nun, dann nehme ich an, dass du einen gewichtigen Grund hast, mich mitten in der Nacht zu wecken.«
»Kannst du mir etwas mehr über die Stürme erzählen?«, fragte Mira. »Was sind Flares?«
»Flares …?« Bausch sah das Mädchen verwundert an.
»Und wer war Nathan?«
Der alte Mann wirkte schlagartig nüchtern. »Wie um alles in der Welt kommst du denn darauf?«
»Vater hat sich mit Ben gestritten …«
»Ben? Ist das der Fremde, der heute eingetroffen ist?«
»Ja. Eigentlich heißt er Benoît. Er kommt aus dem Institut, wegen der
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