Das Aion - Kinder der Sonne
Sturm, dann hütet euch, ihr kleinen Riesen, dann hütet euch!«
Er hob eine der Kugeln auf und ließ sich in den dazugehörigen Sessel fallen. Das Grinsen wich aus Bauschs Gesicht, und er sah plötzlich dreimal so alt aus. Mira hatte Bausch oft nach seinem Alter gefragt und jedes Mal eine andere Antwort erhalten. Wenn sie die niedrigste und die höchste Angabe als Spanne nahm, dann musste er zwischen 60 und 130 Jahre alt sein. Ersteres war für sie noch vorstellbar, Letzteres klang hingegen einigermaßen absurd. Oder vielleicht doch nicht? Hielt der Palmwein Bausch jung? Oder war er womöglich viel jünger, und der Alkohol hatte ihn alt gemacht?
Bausch nahm wieder einen Schluck aus der Flasche und sah etwas verschämt durch den Raum. Dann schenkte er Mira einen seltsamen Blick und streckte seine faltige, vernarbte Hand nach ihr aus.
»Komm her, Prinzessin«, forderte er sie auf. »Zeig mir deine Hände.«
Mira schüttelte den Kopf und blieb stehen.
»Ich tue dir nichts. Wolltest du nicht wissen, warum Ben so feine Hände hat und eine so helle Haut? Warum er so schön ist, und wir Alten im Vergleich zu ihm aussehen wie Manganknollen?«
Mira nickte, hielt aber weiterhin Abstand zu Bausch. Sein sonnengegerbter, schrumpeliger Oberkörper erinnerte sie an eine riesige, getrocknete Feige.
»Komm, setz dich«, forderte Bausch Mira mit schwerer Zunge auf. »Ich tue dir doch nichts.«
Mira zögerte, dann nahm sie auf dem Sessel Platz, der Bausch gegenüberstand. Den Tisch zwischen sich und ihm zu wissen, beruhigte sie ein wenig.
»Mir ist kalt.«
»Ja.« Bausch stellte endlich die Flasche beiseite und stand wieder auf. »Du hast Angst …« Er ging um den Tisch herum zu Mira, die verkrampft im Sessel versank, und nahm ihr das kugelförmige Objekt aus den Händen, das sie an sich presste wie ein versteinertes Stofftier.
»Glaub mir, ich tue dir wirklich nichts.«
»Wo sind wir hier?« Miras Stimme war nur ein Flüstern.
»In der Steuergondel der Nathan.«
Der Blick des Mädchens huschte durch den Raum. »Was ist denn eine Steuergondel?«
»Darauf wirst du vielleicht von ganz alleine kommen.« Bausch setzte sich in den Nachbarsessel und hielt das seltsame Kugelgebilde vor sich in die Höhe. »Das hier ist ein Videohelm, ein sogenannter Datavisor. Du musst sehr vorsichtig damit sein, denn er ist sehr alt und daher sehr empfindlich. Fällt er zu Boden, ist er mit Sicherheit kaputt. Ich hoffe, er funktioniert überhaupt noch …« Bausch klappte den Helm in zwei Hälften auseinander und stülpte diese Mira behutsam über den Kopf. »Erkennst du noch irgendetwas?«, fragte er, nachdem er das Visier vor ihrem Gesicht geschlossen hatte. Seine Worte drangen gedämpft an Miras Ohren.
»Nein.« Ihre Stimme bebte. »Was hast du vor?«
»Ich zeige dir, was euch von uns und den Menschen aus dem Savornin-Bannkreis unterscheidet«, murmelte Bausch. »Und warum wir in der Beta-Zone leben. Du willst es doch noch wissen, oder?«
Miras Puls schien sich vervielfacht zu haben. Sie spürte sein Pochen im Kopf, in den Armen und tief unten im Bauch. »Ja«, antwortete sie beklommen. »Aber ich habe Angst. Was macht dieses Data-Ding?«
»Es zeigt dir Bilder aus der Vergangenheit. Sie werden direkt auf deine Großhirnrinde übertragen.«
»Auf meine Großhirnrinde?«
»Auf …« Bausch hob den Helm etwas an und tippte Mira an den Hinterkopf. »Hierher, unter den Schädelknochen, auf die Sehrinde des Okzipitallappens, wohin alle elektrischen Signale transportiert werden, die deine Netzhaut als Bilder einfängt.«
»Was?«
»Ach, vergiss es.« Bausch drückte den Helm wieder auf ihre Schultern und murmelte etwas Unverständliches. Sie spürte seine Hand auf ihrem Arm liegen.
»Ich sehe jetzt mit dem Hinterkopf?«, fragte Mira verdutzt.
»So ähnlich. Ich erkläre es dir ein andermal.« Der alte Mann nestelte an dem Helm herum. »Das, was du gleich siehst, wird dir vorkommen wie die Wirklichkeit. Du musst dich nicht davor fürchten, denn es ist nur ein Film. Eine Aufzeichnung aus der Vergangenheit.«
»Wie ein Tagebuch?«
»Ja, wie ein Tagebuch, nur in Bildern.« Bausch klopfte gegen den Helm. »Alles okay da drin?«
Das Mädchen nickte, woraufhin der Druck von Bauschs Hand von ihrem Arm verschwand. Mira fühlte sich wie in finsterster Nacht ausgesetzt. Fieberhaft überlegte sie, was der alte Mann wohl tat, während sie blind und nahezu taub im Sessel saß. Ein kurzer Signalton ertönte, dann begann es vor ihren Augen nervös
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