Das Aion - Kinder der Sonne
fragte es schließlich.
Mira senkte den Blick. Dann schüttelte sie traurig den Kopf und beobachtete wieder die sanft über den Strand rollenden Wellen. Azur machte erneut einen Schritt auf sie zu. Er streckte eine Hand aus, um Miras Schulter zu berühren, zog die Finger jedoch sofort wieder zurück und betrachtete sie, als wolle er prüfen, ob sich an ihnen etwas verändert hatte.
»Das Aion hat geglaubt, dass dir der Sand gefallen würde«, erklärte er. »So wie die Dünen und all die kleinen Oberflächenwesen, die du hier auf der Insel jagen kannst. Das tust du doch so gerne …«
Mira bekam eine Gänsehaut. Ehe sie jedoch Gelegenheit fand, ihren eigenartigen Besucher zu fragen, woher er ihre Gewohnheiten und Vorlieben kannte, fügte Azur hinzu: »Wärst du gerne im Wasser geblieben – für immer?«
Mira schüttelte den Kopf.
»Nun, das Aion weiß nicht, was es falsch gemacht hat. Darum hat es mich geschickt.«
»Falls es dein verfluchtes Aion war, das mich im Speicherbecken unter Wasser gezogen hat, dann sag ihm, ich hätte gerne weitergelebt!«, antwortete Mira mit bebender Stimme. »Das hat es falsch gemacht!« Ihr Blick schweifte hilflos über den Strand. »Aber wen interessiert schon mein Leben. Ich bin ja nur eine Beta …«
»Was soll das sein, eine Beta?«, fragte Azur.
»Ich bin eine Beta!«, brauste Mira auf. »Sieht man das denn nicht? Hier!« Sie streckte dem Winzling ihre Hände entgegen. »Jedes blinde Schiddlegg sieht das!«
Azur zuckte zurück, betrachtete sie dann jedoch forschend. Mira missinterpretierte seinen Blick und wandte sich wieder ab. Schließlich verschränkte sie die Arme auf ihren angezogenen Knien und verbarg ihr Gesicht darin.
Azur zögerte einen Augenblick, dann trat er heran und strich ihr mit seinen winzigen Fingern vorsichtig durchs Haar. Die Berührung erzeugte auf ihrer Kopfhaut ein leichtes Kribbeln.
»Ich sehe an dir nichts Abstoßendes, Beta.«
»Mein Name ist Mira!«
»Weißt du denn nicht, dass du im Aion nicht sterben kannst, Beta Mira?«
»Natürlich nicht«, flüsterte sie. »Ich bin ja schon tot.«
»Wir wurden nicht hergeschickt, um zu sterben«, erklärte Azur. »Wir sind hier, um uns zu begegnen. Sieh hinaus aufs Meer.«
Widerwillig hob Mira den Blick. Jenseits der Brandung kam zu ihrer Überraschung der blaue Fisch aus dem Wasser gesprungen. Allerdings fiel er nicht zurück in sein Element, sondern blieb gut einen Meter über der Oberfläche schweben. Für eine Sekunde verschwand er in einem strahlenden blauen Glühen, dem ein kleiner, insektenhafter Vogel entschlüpfte. Er kam herangeflogen und stoppte direkt vor Miras Augen. Es war der blaue Kolibri aus dem Zeppelinhangar! Sekundenlang schwebte er vor ihrem Gesicht, dann schoss seine Zunge hervor und tippte gegen Miras Stirn. Sogleich machte der winzige Vogel kehrt und schwirrte wieder hinaus, wo er über dem Wasser verharrte. Für einen Sekundenbruchteil verwandelte er sich erneut in ein strahlendes Licht, dann plumpste er als blauer Fisch zurück ins Wasser.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Mira, als sie die Sprache wiedergefunden hatte.
»Dass dem Aion sehr viel an dir liegt«, antwortete Azur.
Mira hob den Blick und sah ihm direkt ins Gesicht. Vergeblich suchte es in seinen schwarzen, wie geschliffene Obsidiane schimmernden Augen eine Widerspiegelung.
An mir? Aus ihrem Mund drang kein Laut, ihre Worte waren nur stumme Bewegungen ihrer bebenden Lippen. Warum denn ausgerechnet an mir?
»Darüber darf ich nicht sprechen«, erklärte er, während er weiter ihr Haar streichelte. »Es ist noch zu früh.«
Ein unangenehmer Schauer überfiel Mira. »Was machst du da eigentlich?«, fragte sie und schlug Azurs Hand fort, als sich das unangenehme Kribbeln ihrer Haut zum Nacken hin verstärkte.
»Ich wollte dir nicht wehtun«, versicherte Azur und sah sie erschrocken an.
»Es kratzt und juckt und zwickt …« Mira schüttelte sich und strich mit den Handflächen nervös über ihre Arme und Schultern.
»Du wirst blühen«, sagte Azur. »Wunderschön wirst du aussehen in deinem Blütenkleid.«
»Blühen?« Mira sah verständnislos an sich herab. »Ich will aber nicht blühen!«, rief sie verblüfft. »Sag das deinem blöden Aion gefälligst!«
Sie sprang auf und lief ein paar Schritte weit hinaus in die Brandung. Dort ließ sie sich in die Wellen sinken und blieb zusammengekauert sitzen. Azur seufzte, folgte ihr ins Wasser und setzte sich neben sie. Die Wellen schlugen ihm dabei fast bis
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