Das Aion - Kinder der Sonne
dem diese Aufgabe oblag. Schließlich gab er sich einen Ruck und folgte den Spuren des Mädchens Richtung Küste …
Als Mira den Strandabschnitt erreichte, an dem sie an Land gekommen war, verspürte sie große Lust, einfach weiterzulaufen, um der Einöde und Trostlosigkeit der Insel zu entkommen; hinaus ins Wasser, wo ein kleiner blauer Fisch sich zweifellos über ihre Rückkehr freuen würde. Ihr Mantel war zwar mittlerweile trocken, dafür aber steif wie ein Brett. Als Mira versuchte ihn anzuziehen, hatte sie das Gefühl, in eine Lehmwand zu schlüpfen. Sie legte ihn auf den Boden und trampelte eine Weile auf ihm herum, um den Stoff weich zu machen. Danach war ihr jedoch viel zu warm, um ihn anzuziehen. Erschöpft ließ sich Mira in den feuchten Sand sinken. Lange starrte sie über das Wasser zum Horizont, ohne zu blinzeln, bis sich ihre trockenen Augen mit Tränen füllten. Dann ließ sie den Kopf auf ihre an die Brust gezogenen Knie sinken.
»Warum weinst du?«, fragte plötzlich eine glockenhelle Stimme hinter ihr.
Mira zuckte vor Schreck zusammen und wirbelte im Sitzen herum. Wenige Schritte von ihr entfernt stand jemand und sah sie neugierig an. Er war kaum größer als ein dreijähriges Kind. Mira hatte noch nie in ihrem Leben einen so kleinen Menschen gesehen. Trotzdem sah er nicht wie ein Kind aus. Er war nur winzig.
Mira wischte sich die Augen trocken und blinzelte den seltsamen Besucher an. Er war ebenfalls barfuß, trug nur einen kurzärmeligen, blau glänzenden Mantel. Er war völlig kahl und an seinen Händen und Füßen hatte er lediglich vier Finger und vier Zehen. Wie versteinert stand er hinter Mira und schien auf eine Antwort zu warten.
»Wer bist du?«, fragte das Mädchen.
»Nenn mich Azur.«
Mira sprach den Namen lautlos nach, dann sah sie sich suchend um. »Wie bist du hierhergekommen?«, fragte sie. »Mit einem Boot?«
Azur legte den Kopf schräg. »Boot?«
»Über das Wasser, meine ich.«
»Nein, nicht über das Wasser.« Das Wesen verzog seine Lippen. Es sollte offenbar ein Lächeln sein. »Das Aion hat mich hergebracht, so wie dich.«
»Aha, das Aion …« Mira senkte den Blick. Nach einer langen Zeit des Schweigens fragte sie schließlich kaum hörbar: »Wir sind tot, nicht wahr?«
»Wie kommst du denn darauf?«, wunderte sich Azur.
»Weil …« Mira zuckte hilflos mit den Schultern. »Weil hier alles so anders ist.«
»Anders?«
»Es ist hell und warm, aber es scheint keine Sonne«, erklärte Mira. »Unter Wasser blühen Blumen, doch an Land wächst kein einziger Grashalm. Und die Wunde an meinem Kopf …« Sie strich sich mit einer Hand über die Stirn. »Sie ist weg.«
»Das war ich nicht«, beeilte sich Azur zu sagen. »Das Aion hat dich geheilt.«
Mira musterte den Zwerg. »Wer ist denn dieses Aion?«
Das Wesen sah hinauf zum Himmel, dann hob es die Arme und machte eine alles umfassende Geste. »Alles, was du hier siehst, ist das Aion«, erklärte es.
Mira ließ langsam den Kopf sinken, dann nickte sie schwach, als hätte sie die Bedeutung der Worte verstanden. »Die Insel der Seligen …«
Azur machte ein verständnisloses Gesicht. »Seligen?«
»Das Jenseits«, erklärte Mira. »Die Toteninsel. So hat Bausch sie immer genannt.«
Ihr Gegenüber schien über ihre Worte nachzudenken. »Nein«, entschied er nach kurzem Überlegen. »Das Aion!«
Mira verzog die Mundwinkel. »Warum bist du so klein?«
Azur zog den Kopf ein. »Ich wollte dich nicht erschrecken«, antwortete er. »Ich habe diese Form gewählt, um mich dir mitzuteilen.« Er trat zwei Schritte auf das Mädchen zu, blieb jedoch ruckartig wieder stehen. »Du hast mir noch nicht geantwortet«, erinnerte er sie. »Warum hast du geweint?«
Mira wich seinem Blick aus und sah zu Boden. »Weil ich …« Sie strich mit zitternden Händen über den Sand. »Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, war, dass ich immer tiefer gesunken bin, tiefer und tiefer hinab in die Dunkelheit … Ich hatte geglaubt, zu sterben sei etwas Endgültiges – bis ich wieder aufgewacht bin und das Wasser atmen konnte. Und hier an Land gibt es nichts außer Sand und stumpfsinnige Echsen, die einen nur dumm anglotzen, wenn man ihnen begegnet.« Mira sah auf. »Bist du etwa auch so ein blöder Roboter?«
Azur zog das Kinn an die Brust. »Roboter?«
»Eine Maschine«, erklärte Mira. »Mit Kabeln im Bauch und ein paar Zahnrädchen im Kopf …«
Das Wesen machte ein verwirrtes Gesicht. »Machst du dich über mich lustig?«,
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